SRF News Online: Was ging Ihnen als erstes durch den Kopf, als Sie selber verunfallten?
Sarah Allemann: Es war ein Schock. Mir wurde sofort bewusst, dass ich ohne fremde Hilfe nicht mehr aus der Höhle kommen würde. Ich merkte auch gleich, dass mit meiner Schulter etwas nicht stimmte.
Kam da auch Angst auf?
Die Angst kam erst später. Ich begann zu überlegen, ob ich mir mehr als nur die rechte Schulter ausgerenkt hatte, vielleicht etwas gebrochen war oder ich gar innere Blutungen haben könnte. Da bekam ich es mit der Angst zu tun.
Sie hatten ja bereits realisiert, dass Sie die Schulter ausgerenkt hatten. Wie kam es zum Unfall?
Wir hatten alle schwierigen Passagen bereits hinter uns. Der Unfall passierte unerwartet an einer flacheren Stelle. Da stolperte ich über einen Stein, machte eine halbe Rolle vorwärts und lag dann am Boden.
Jemand blieb bei Ihnen, die anderen drei Kollegen holten Hilfe. Neun Stunden dauerte es, bis die Rettung kam. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Es war ein Auf und Ab. Am Anfang hatte ich das Gefühl, wie betäubt zu sein, das war wohl das Adrenalin. Ich spürte auch den Schmerz nicht so stark, der kam erst später. In unserer Apotheke hatten wir keine Schmerzmittel – das war ein Fehler. Je länger das Warten dauerte, desto beklemmender wurde es. Mir wurde plötzlich bewusst, welch unwirtliche Gegend so eine Höhle ist: Es ist dunkel, kalt mit vier bis fünf Grad Celsius. Wenn man da stundenlang rumliegt, wird’s schnell ungemütlich. Mit der Zeit hörte ich auch Stimmen und hatte immer wieder das Gefühl, die Retter kämen nun endlich. Dies war dann jeweils doch nicht der Fall. Es beschlich mich eine Hilflosigkeit und auch Verzweiflung. Kein Thema waren Durst oder Hunger - auch nach neun Stunden nicht.
Was haben Sie während dieser langen Zeit dort unten in der Höhle gemacht?
Geredet! Mein Kollege, der bei mir blieb, ist ein erfahrener Höhlenforscher. Er fing dann an, mich zu unterhalten und erzählte von eigenen Erlebnissen. Er versuchte, mich aufzuheitern und aufzuzeigen, dass er selber auch schon aus schwierigen Situationen rauskam. Diese Gespräche halfen sehr, die lange Zeit zu überbrücken.
Neun Stunden warten ist eine lange Zeit. In der Tiefe tickt die Uhr anders. Wie fühlte sich das an?
In einer Höhle verliert man jedes Gefühl für die Zeit. Man kann nicht sagen, ob man nun schon eine halbe oder eine Stunde unterwegs ist. Die Wahrnehmung ist ganz anders. Im Nachhinein ist es sehr schwierig für mich zu sagen, was in welchen Abständen passierte. Es dauerte eine Ewigkeit dort unten. Neun Stunden einfach nur dazusitzen und zu warten: Das ist ein ganzer Arbeitstag – eigentlich unvorstellbar.
Was lösen Unfälle wie nun in den Bayrischen Alpen bei Ihnen aus?
Mir liefen sofort die Bilder vom eigenen Unfall ab. Ich sah mich wieder im Nidlenloch liegen. Dieser Höhlenforscher ist ja viel tiefer und schwerer in der Höhle verunfallt als ich. Das gibt mir auch das Gefühl, nochmals Glück gehabt zu haben.
Sie machen immer noch Höhlengänge. Wann wagten Sie es nach Ihrem Unfall wieder?
Ein halbes Jahr danach besuchte ich erneut eine Höhle – eine einfache –, und zwei Jahre nach dem Unfall machte ich nochmals die gleiche Tour im Nidlenloch. Das war wie ein Prüfstein. Am Anfang legte ich jeden einzelnen Meter äusserst konzentriert zurück. Bei der Unfallstelle gab ich dem Stein, über den ich stolperte, einen kleinen Tritt – so quasi als Revanche. Ich hatte danach auch ein gutes Gefühl, fühlte mich sicher. Aber ich bin noch heute konzentrierter unterwegs. Mir ist bewusst, welch grosse Auswirkungen ein kleiner Stolperer haben kann. Und eine Höhle ist dafür wohl der dümmste Ort.
Das Interview führte Monika Zumbrunn.