SRF News: Herr Gobbi, haben Sie sich die Flüchtlingssituation persönlich an der Grenze zum Kanton Tessin angeschaut?
Norman Gobbi: Die Situation an der Südgrenze ist täglich ein Thema. Es ist ein Sommerhit. Bereits letztes Jahr war dies so. Damals gab es Rekordzahlen, die allerdings in diesem Jahr nochmals übertroffen wurden. Wir befinden uns in einer Migrationskrise. Im Juni waren es beispielsweise 3‘300 Personen, die ein Asylgesuch eingereicht haben in Chiasso. Und im Juli waren es 6‘300 Personen, welche die Grenzwache aufgegriffen hat.
Waren Sie jetzt persönlich in Como und haben sich die Situation angeschaut?
Die Situation ist lokal begrenzt und zwar auf den Bahnhof San Giovanni. Dort bin ich vorbeigefahren. Wir müssen damit rechnen, dass diese Menschen dort nach Chiasso kommen. Der Bahnhof von Como ist allerdings noch ein gutes Stück von der Schweizer Grenze entfernt. Denn dazwischen liegt noch der Monte-Olimpino-Tunnel. Das zeigt schon, dass sich dieses Drama nicht direkt an der Grenze abspielt. Dadurch verfügen wir und die italienischen Behörden über eine gewisse Reaktionszeit, sollte etwas passieren.
Sie nehmen also in ihrer Funktion als Polizeidirektor keinen Augenschein vor Ort, wie dies beispielsweise die Tessiner SP-Nationalrätin Marina Carobbio getan hat?
Meine Ansprechpartner sind die Präfekten, die Vertreter der Zentralregierung in Como. Es gibt jeweils einen Präfekten pro Provinz. Sie sind verantwortlich für die innere Sicherheit und die Migration. Damit sind sie auch Bezugspersonen für die Grenzangelegenheiten mit der Schweiz. Und in Chiasso haben wir ein Kooperationszentrum für die Zoll- und Polizeibehörden. Im vergangenen Jahr haben wir eine gemeinsame Gruppe gebildet zur Bekämpfung der Menschenschlepper.
Alles was in Como passiert, hat eine Auswirkung auf die Lage in der gesamten Schweiz.
Das heisst also, Sie machen sich selber kein Bild vor Ort?
Mein Ziel ist nicht, mich um die Migranten zu kümmern. Meine Aufgabe ist es mit den italienischen Behörden die ganze Flüchtlingssituation zu bewältigen. Denn alles was in Como passiert, hat immer eine Auswirkung auf die Lage in Chiasso und in der gesamten Schweiz.
Natürlich kümmern wir uns um die Migranten, denn wir haben ja mit ihnen zu tun, wenn sie zu uns kommen. Und ich bin in engem Kontakt mit der Zollverwaltung in Chiasso, mit dem Präfekt in Como, der Tessiner Kantonspolizei sowie dem kantonalen Stab für Migration. Diese Form des Austauschs wurde bereits im vergangenen Jahr auf die Beine gestellt und zeigt bereits Wirkung. Dadurch waren wir auf die Situation in diesem Sommer vorbereitet. Wir wurden nicht überrascht, mussten lediglich unser Dispositiv anpassen. Aber: Dieses Jahr haben wir festgestellt, dass das Ziel vieler Migranten nördlich der Schweiz liegt, nämlich Deutschland.
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Bewegt Sie die Situation dieser Menschen nicht?
Das bewegt jeden Menschen, der eine Seele hat. Zum Glück gibt es aber klare Verantwortungen und Einflussbereiche. Und in Como ist es an den italienischen Behörden die Lage der Migranten zu bewältigen. Italien ist immerhin ein EU-Mitgliedstaat, Nato-Mitglied und Teil des Schengen/Dublin-Abkommens. Und Italien wurde vom Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg als sicherer Staat anerkannt. Das zeigt, dass für die Italiener Möglichkeiten vorhanden sind, den Flüchtlingsansturm zu bewältigen.
Leider gibt es in Italien keinen Verteilschlüssel für die Migranten, wie in der Schweiz. Denn die Asylbewerber, die ihr Gesuch in Chiasso stellten, bleiben nicht alle im Tessin. Sie werden zum Glück auf die Kantone verteilt. Wir wissen, dass sich die europäischen Mitgliedsstaaten bei der Schaffung eines Verteilschlüssels querstellen. Das ist auch der Grund für die dramatische Situation der Flüchtlinge in Italien. Dafür habe ich Verständnis und darum arbeiten wir auch sehr eng mit den italienischen Behörden zusammen.
Ist die humanitäre Hilfe in Como nur Sache von Italien oder müssen wir auch helfen?
Wir helfen schon mit. Was der Kanton Tessin heute in der Migrationsfrage leistet, das macht kein anderer Kanton. Wir übernehmen diese Migranten. Wir stellen sicher, dass diese Menschen eine Übernachtungsmöglichkeit während der Rücküberstellung haben.
Es gibt immer Menschen, die versuchen durchzuschlüpfen.
… also wenn die Migranten kommen, können sie zuerst in der Schweiz übernachten und dann schicken Sie die Menschen wieder zurück?
Genau. Wenn das nicht am gleichen Tag möglich ist, bleiben sie bei uns für eine Nacht. Und wir haben immer menschenwürdige Lösungen gefunden, damit die Flüchtlinge sehen, dass die Schweiz sie respektiert. Den Vorwurf seitens der SP, die Schweiz verhindere, dass die Migranten Asylgesuche stellen, trage ich nicht mit. Denn bereits im Juli gab es 2‘700 Asylgesuche in Chiasso. Das sind doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Und im Juni waren es 3‘300 Gesuche. Das zeigt: Wenn die Migranten kommen, um ein Asylgesuch zu stellen, dann bekommen sie das auch. Aber wenn sie sagen, ihr Ziel ist die Durchreise oder Deutschland, ist klar: Wir haben auch ein Ausländergesetz, das respektiert werden muss.
Es gab einige Widersprüche, also Hilfswerke und auch Sie haben gesagt: Es gab Fälle, da wurde gar nicht auf Asyl eingegangen. Geht man nun darauf ein oder nicht?
Wenn ein Migrant kommt, und ein klares Asylgesuch stellt, dann wird der entsprechende Prozess eingeleitet. Aber er muss das Gesuch selbst stellen. Ein bereits von einer Hilfsorganisation ausgefülltes Formular das besagt: XY will ein Asylgesuch stellen, gilt nicht. Denn die Person muss selber entscheiden, was sie tatsächlich will. Es gibt immer Menschen, die versuchen durchzuschlüpfen. Wir müssen unsere Arbeit gut machen, damit das nicht an der Nordgrenze passiert, was sich bereits an der Südgrenze der Schweiz abspielt.
Das Gespräch führte Susanne Brunner.