Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit. Die Ukraine und Russland sind Kornkammern, die Exporte von Getreide eingebrochen, die Preise steigen. Diese Entwicklung rückt die Agrarpolitik in den Fokus. Auch in der Schweiz: Die SVP zum Beispiel fordert den Bundesrat auf, eine «Anbauschlacht 2.0» vorzubereiten. Das ist eine Anspielung auf den «Plan Wahlen», mit dem während des Zweiten Weltkrieges die Selbstversorgung der Schweiz drastisch gesteigert werden sollte.
SRF News: Wann war der Wunsch nach Selbstversorgung in der Schweizer Agrargeschichte besonders stark?
Peter Moser: Wir müssen etwas ausholen, denn die erste wirtschaftliche Globalisierung im 19. Jahrhundert war vor allem eine Globalisierung der Landwirtschaft und der Ernährung, sowohl der Produktion als auch des Konsums. Die Schweiz wurde von einer gelben zu einer grünen Schweiz, von einer Getreide produzierenden zu einer Milch produzierenden Schweiz. Bis zum Ersten Weltkrieg ungefähr hat das funktioniert. Zum Ende des Ersten Weltkrieges ab 1916/17 gab es dann Schwierigkeiten.
Ein Wissensaustausch zwischen der Geschichte und der aktuellen Politik wäre sehr gefragt und sehr nützlich.
Da hat man realisiert, dass man nicht primär für den Weltmarkt Milch und Käse, sondern für die Ernährung des eigenen Volkes produzieren will?
Wir können nicht leben, ohne uns zu ernähren. Deshalb ist die Ernährungsfrage ab 1916/17 auch in den Fokus der innenpolitischen Diskussion gerückt. Man hat etwas andere Gewichte gesetzt, aber keinen Paradigmenwechsel vorgenommen. Im Denken über das Agrarische haben sich damals jedoch dramatische Veränderungen vollzogen.
Ist Landwirtschaftspolitik oder war sie immer schon eine Interessenspolitik?
Jede Politik ist interessengeleitet. Die Frage ist, von welchen Interessen. Die Agrarpolitik ist, seit es sie seit den 1880er-Jahren vom Bund her gibt, eine Gesellschaftspolitik. Im 19. Jahrhundert, als die Bundesämter für Landwirtschaft und viele landwirtschaftliche Organisationen entstanden sind, wollte man die Globalisierung aufrechterhalten. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man etwas andere Akzente setzen. Deshalb ist die Agrarpolitik immer Gesellschaftspolitik.
Die Landwirtschaft soll produktiv sein und möglichst viele ernähren. Sie muss aber auch ökologisch sein. Ist das ein Widerspruch?
Nein, überhaupt nicht. Aber wir sehen es heute als Widerspruch oder Gegensatz. Das ist ein ganz neues Denken, das erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist.
Warum?
Weil man die Landwirtschaft zunehmend aus einem Industrieblick betrachtet hat. Das hat man zwar schon im 19. und im frühen 20. Jahrhundert gemacht. Aber damals war man sich bewusst, dass man die Landwirtschaft zwar wie die Industrie behandeln will, dass das jedoch nicht geht.
Man kann die agrarischen Eigenheiten, wo die Reproduktion der Ressourcen in der Produktion integriert sind, nicht nach industriellen Normen regeln.
Man kann die agrarischen Eigenheiten, wo die Reproduktion der Ressourcen in der Produktion integriert sind, nicht nach industriellen Normen regeln. Ab den 1950er-, 1960er-Jahren – als man genügend Hilfsstoffe in Form von Chemie, Pestiziden und weiterem hatte – ist man davon ausgegangen, dass das wie in der Industrie sei: dass man, wenn man etwas produziere, auch etwas zerstöre. Das ist aber im Wesen des Agrarischen nicht der Fall.
Erfordert die Landwirtschaftspolitik der Zukunft ein neues Denken?
Aus einer historischen Perspektive betrachtet würde ich sagen, wir täten gut daran, uns zu überlegen, wie es dazu gekommen ist, dass wir so denken, wenn das den eigentlichen Realitäten widerspricht. Hier wäre ein Wissensaustausch zwischen der Geschichte und der aktuellen Politik sehr gefragt und sehr nützlich.