140 Kriseninterventionen – das sind nochmal rund 20 mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, sagt Lulzana Musliu von Pro Juventute: «Das ist in der Tat eine sehr hohe Zahl. Das hatten wir bis jetzt noch nie.» Seit Beginn der Coronapandemie ist die Zahl stark gestiegen und verharrt auf hohem Niveau. Im Jahr 2019 seien es lediglich 57 Fälle gewesen, so Musliu. Die Krisenfälle hätten sich also fast verdreifacht.
Es ist eine Kombination aus überlasteter Versorgungskette, mehr Stress und mehr psychischen Belastungen.
Dabei seien die Kriterien für Kriseninterventionen dieselben. Das Beratungsteam der Notrufnummer 147 bietet Polizei und Sanität nur im äussersten Notfall auf, wenn akute Suizidgefahr bestehe, betont Musliu.
Die Zahlen zeigten auch, dass die Notrufnummer gut bekannt sei. «Das alleine erklärt aber die Zunahme nicht. Es ist wirklich eine Kombination aus überlasteter Versorgungskette, mehr Stress und mehr psychischen Belastungen.»
Dass die psychische Belastung in der Gesellschaft gestiegen ist, bestätigt Thomas Ihde, Chefarzt Psychiatrie der Spitäler FMI im Berner Oberland und Stiftungspräsident der Organisation Pro Mente Sana: Es sei schon so, dass die Bevölkerung heute sensibler sei, was die psychische Gesundheit anbelange.
Eine Welt unter Stress
Doch die Gesellschaft habe sich auch verändert, und das betreffe nicht nur Jugendliche. «Unserer Welt ist sehr mental oder emotional geworden», sagt Ihde. Wir bräuchten heutzutage den ganzen Tag emotionale und mentale Kompetenzen. Es gebe Anpassungsphänomene und damit einhergehend eine hohe Stressbelastung.
Ein Beispiel sind Berichte über Kriege und Krisen auf der Welt. Diese seien etwa in den sozialen Netzwerken häufig sehr emotional aufgeladen, sagt Chefarzt Ihde. Gerade Jugendliche reagierten darauf stark.
Wesentlich mitverantwortlich für die Zunahme der Kriseninterventionen bei der Notrufnummer bei Pro Juventute ist auch der Versorgungsengpass. Ihde: «Wenn ein Jugendlicher in einer Krise ist und sich bei der Psychiatrie meldet und dann hört er, er erhält einen Termin in drei, sechs oder zehn Monaten, dann nützt das vielleicht für zwei Wochen und dann kommt einfach diese Hoffnungslosigkeit.»
Ausserdem kann sich eine suizidale Krise zuspitzen. Anlaufstellen fungieren dann als Auffangnetz. Mit diesen Anlaufstellen beschäftigt sich derzeit auch die Politik: Diese Woche behandelt der Ständerat einen Vorstoss, der verlangt, dass die Finanzierung von solchen Angeboten gesichert wird.