Die Diskussion um neue AKW ist in der Schweiz lanciert. Ein Revival der Nukleartechnologie erlebt auch die ETH Zürich. Nach jahrelanger Flaute steigt die Anzahl Studierender rasant. Für die Professorin Annalisa Manera ist klar: Kernkraft ist die optimale Ergänzung zu erneuerbaren Energien.
SRF News: Italien ist nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1987 aus der Atomenergie ausgestiegen. Sie wurden in Bari geboren und haben in Pisa studiert. Warum Kerntechnik – trotz Italiens Ausstieg?
Annalisa Manera: Ich habe mich bereits in der Schule für Physik interessiert, doch die Berufsaussichten als Physikerin waren Anfang der 90er-Jahren schlecht. So entschied ich mich für das Ingenieurstudium mit dem grössten Anteil Physik. Das war die Kerntechnik.
Italien hat im Mai denselben Schritt vollzogen wie die Schweiz letzte Woche: Die Regierung will Gesetzesänderungen prüfen, damit neue Kernkraftwerke gebaut werden können. Hat Sie das gefreut?
Es war für mich keine Überraschung. Denn Italien ist immer abhängiger geworden von Stromimporten, trotz grosser Investitionen in erneuerbare Energien. Das ist nicht genug. Keine einzelne Technologie ist die Lösung. Wir müssen die beste Kombination finden, die beste Ergänzung zu den erneuerbaren Energien.
Wenn man Bedenken zur Sicherheit hat, dann müssten wir die neue Generation der Kernkraftwerke bauen.
Italien und auch die Schweiz sind auch aus Sicherheitsbedenken aus der Atomenergie ausgestiegen. Diese Argumente zählen für Sie nicht?
Ich empfinde es als etwas heuchlerisch. Wenn man Bedenken zur Sicherheit hat, dann müssten wir die neue Generation der Kernkraftwerke bauen, die heute auf dem Markt ist. Die Sicherheit dieser KKW ist eigentlich unschlagbar. Aber nicht die alten weiterlaufen lassen und neue verbieten.
Die neuen sind punkto Sicherheit nicht zu schlagen. Auch beim schlimmsten Vorfall bleibt alles, was im Kernkraftwerk passiert, im Kernkraftwerk drin. Die Bevölkerung ist nicht betroffen. Die neuen Sicherheitssysteme können die Radioaktivität im Reaktor behalten.
Ungelöst ist auch nach Jahrzehnten die Entsorgung des Abfalls. Das Versprechen, eine Lösung zu finden, ist noch nicht eingelöst, ein Tiefenlager ist nicht in Betrieb …
Da gibt es ein Missverständnis. Das Problem vom Abfall ist seit Jahrzehnten technisch gelöst. Das politische Problem ist nicht gelöst. Heute brauchen wir noch kein Tiefenlager, da die Abfälle noch auskühlen müssen. Wenn wir ein solches Lager brauchen, werden wir die beste Lösung haben.
Wir wissen, dass es stabile Regionen gibt, in denen sich die Radioaktivität nicht bewegen kann.
Wissenschaftlich betrachtet war vor zwei Milliarden Jahren die Radioaktivität auf der Erde viel höher. Es entstanden natürliche Kettenreaktionen in Westafrika. Diese radioaktiven Stoffe sind zwei Milliarden Jahre am gleichen Ort geblieben. Sie gelangten nicht ins Wasser und auch nicht an die Oberfläche. Wir wissen also, dass es stabile Regionen gibt, in denen sich die Radioaktivität nicht bewegen kann.
Heute stehen sich Befürworterinnen und Befürworter von Kernenergie und Erneuerbarer Energie feindlich gegenüber. Sie hätten es gerne anders?
Ich finde es schade. Denn wir müssen unsere Stromgewinnung dekarbonisieren. Zudem brauchen wir mehr Strom. Das Problem ist in Wirklichkeit so gross, dass die Befürworter der Kern- und der erneuerbaren Energie zusammenarbeiten sollten und nicht gegeneinander.
Früher hatte die ETH Mühe, Studentinnen und Studenten für die Nuklearforschung zu finden, ist das heute anders?
Das ist jetzt völlig anders. Wir haben jetzt zu viele Studierende. Wir kommen an die Grenzen. Das Interesse der jungen Leute wird jedes Jahr grösser.
Das Gespräch führte Karoline Arn.