Die Corona-Situation hat sich in vielen Ländern in den vergangenen Tagen wieder zugespitzt – auch in der Schweiz steigen die Zahlen. Epidemiologe Marcel Salathé zur aktuellen Lage.
SRF News: Die Situation erinnert an letztes Jahr im Herbst. Steht uns ein weiterer harter Corona-Winter bevor?
Marcel Salathé: Die Gefahr besteht. Aber die Situation ist eine andere. Wir haben jetzt einen Impfstoff. Für die Geimpften ist die Gefahr aus den bekannten Gründen viel geringer. Aber wir haben nach wie vor eine verhältnismässig sehr tiefe Impfquote und möglicherweise steht die Grippe dieses Jahr vor einem Comeback. Es wird sicher schwierig.
Sie sprechen die tiefe Impfquote an. Bei den Über-12-Jährigen sind über 70 Prozent geimpft. Zudem ist die Anzahl Genesener in der Schweiz höher als bisher angenommen. Da erstaunt doch die derartige Zunahme der Fallzahlen.
Es handelt sich um ein sehr viel ansteckenderes Virus als die originale Version. Zudem müssen wir davon ausgehen, dass rund ein Viertel noch keine Immunität hat, sei es durch Impfung oder durch eine durchgemachte Infektion. Und das sind halt immer noch sehr viele Leute, welche die Fallzahlen nach oben treiben können. Hinzu kommen die Impfdurchbrüche.
Da muss die Schweiz jetzt den Turbo-Booster zünden, damit das auch an die Leute kommt.
Am Montag startet die nationale Impfwoche. Selbst wenn sich – wider Erwarten – doch noch viele zum Impfen bewegen lassen, würde das überhaupt noch reichen, um den Winter etwas abzufedern?
Auf jeden Fall. Jede erste und die folgende Zweitimpfung ist sehr wichtig. Deshalb darf man den Ball jetzt auf keinen Fall fallen lassen. Parallel dazu ist die Boosterimpfung extrem wichtig. Da muss die Schweiz jetzt den Turbo-Booster zünden, damit das auch an die Leute kommt. Die Immunität, der Schutz, lässt mit der Zeit nach, deshalb muss man jetzt, über den Winter, boosten.
Die Boosterimpfung ist erlaubt, doch sie lässt auf sich warten. Das stösst auf viel Unverständnis. Bei Ihnen auch?
Es handelt sich um einen Prozess, den die Boosterimpfung durchlaufen musste. Dieser Prozess ist vielleicht etwas langsamer, als man sich das wünscht, dafür ist er sicher. Aber jetzt muss die Boosterimpfung an die Leute kommen, die Kantone müssen vorwärtsmachen.
Das Problem ist vorbei, wenn alle eine Grundimmunität haben.
Andere Länder sind weiter. Man wird das Gefühl nicht los, die Schweiz hinke immer ein bisschen hinterher. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ja, das geht mir auch nicht anders. Das ist wohl für uns alle frustrierend. Man will zwar nichts überstürzen, doch gleichzeitig muss das Tempo hoch bleiben. Das Virus verlangsamt sich nicht.
Wie schätzen Sie die Zukunft ein? Wann kommen wir auf einen grünen Zweig?
Das Problem ist vorbei, wenn alle eine Grundimmunität haben. Entweder durch die Impfung, das ist der Idealfall, oder durch die natürliche Infektion. Man geht davon aus, dass allenfalls im Frühling das Schlimmste vorbei ist. Doch wir haben gelernt, dass Voraussagen bezüglich dieses Virus sehr schwierig sind.
Das Gespräch führte Urs Gredig.