Die Diskrepanz könnte nicht grösser sein. Hier die Bilder aus der Ukraine: verstörte Menschen, zerstörte Häuser und Ortschaften, ein Land in Trümmern. Dort die Bilder aus Lugano: Ernste, aber soweit gut gelaunte und gut gekleidete Menschen, die mitten im Krieg über Wiederaufbau, Demokratisierung und Geschlechtergerechtigkeit sprechen.
Diese Diskrepanz ist irritierend, und diese Irritation soll man auch nicht wegreden. Und doch ist die Ukraine-Konferenz ein Erfolg. Nicht wegen des Geldes – es ist kein einziger Franken verbindlich für den Wiederaufbau gesprochen worden. Auch nicht wegen des Friedens; diesem ist man in Lugano keinen Schritt nähergekommen. Und schon gar nicht wegen der internationalen Resonanz – die war ziemlich überschaubar.
Ein Ausgangspunkt für weitere Konferenzen
Doch es ist gelungen, verbindliche Prinzipien für den Wiederaufbau der Ukraine zu vereinbaren. Es ist auch gelungen, die ukrainische Regierung und das Parlament auf diese Prinzipien zu verpflichte. Auf Demokratisierung, Nachhaltigkeit, Korruptionsbekämpfung. Es ist vor allem gelungen, die Lugano-Konferenz als Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft zu positionieren.
Die britische Aussenministerin Liz Truss hat in Lugano eine Fortsetzungs-Konferenz in Grossbritannien für 2023 angekündigt, Deutschland will danach ebenfalls eine Nachfolge-Konferenz organisieren. Und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekräftigte, dass die «Lugano Declaration» massgebend für die künftigen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft sein werde – zum Beispiel für die geplante Wiederaufbau-Plattform der EU und die internationale Fachkonferenz im Herbst.
Ein Erfolg auch für Ignazio Cassis
Die Schweiz und vor allem Bundespräsident Ignazio Cassis sind ein erhebliches Risiko eingegangen, als sie im April die geplante Reformkonferenz zu einer Wiederaufbau-Konferenz umdefinierten. Aktuell scheint es, dass sich das Risiko gelohnt hat.
Entscheidend war, die Ukraine von Beginn weg als Co-Organisator dieser Konferenz einzubinden. Immerhin war die ukrainische Delegation von etwa 100 Leuten die grösste, die seit Kriegsbeginn ins Ausland gereist ist. Entscheidend war auch, die Ziele der Wiederaufbau-Konferenz realistisch zu setzen und nicht in grossspurige Ankündigungs-Diplomatie zu verfallen.
Deshalb ist die Konferenz ein Erfolg für das EDA und Bundespräsident Ignazio Cassis. Diesen Erfolg kann er dringend brauchen: Sein Leistungsausweis als Bundespräsident ist bisher bescheiden, und die verhedderte Beziehung mit der EU bessert seine Bilanz auch nicht auf.
Die Konferenz ist aber in erster Linie ein Erfolg für die Menschen in der Ukraine. Für sie ist es ein eminent wichtiges Signal inmitten Zerstörung, Leid und Tod. Das Signal heisst: Wir glauben an euch und euer Land, wir unterstützen euch, wir planen jetzt schon den Wiederaufbau eures Landes.
Klar ist aber auch: Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden die westliche Gemeinschaft dereinst an den Taten messen, die auf diese Worte folgen müssen.