Die Vereinigung der Medizinstudierenden (Swimsa) spricht von einem «besorgniserregenden Trend». Eine von ihr durchgeführte Umfrage unter 2300 Medizinstudierenden zeigt: Ein Drittel der angehenden Ärztinnen und Ärzte überlegt sich nach den ersten Praxiserfahrungen einen Berufswechsel.
Nach dem Wahlstudienjahr, in dem Medizinstudierende während sechs bis neun Monaten als Unterassistentinnen und -assistenten in einem Spital arbeiten, würden 34 Prozent der Studierenden ernsthaft darüber nachdenken, ihren Berufswunsch aufzugeben. Grund dafür sind die erlebten Arbeitsbedingungen.
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50 Stunden oder meist mehr
Arzt oder Ärztin zu sein, ist für die Präsidentin der Vereinigung, Valeria Scheiwiller, grundsätzlich herausfordernd. Gepaart mit hoher Arbeitslast und grossem Arbeitspensum – vertraglich 50 Stunden, in Realität aber 56 Stunden – sei es noch herausfordernder und für viele Medizinstudierende nicht mehr machbar.
Nicht nur Studierende kommen mit diesen Arbeitsbedingungen nicht klar. Yvonne Gilli, selbst Ärztin und Präsidentin des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), sagt, rund 20 Prozent der ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz überlegten sich, den Beruf vorzeitig an den Nagel zu hängen.
Aber eigentlich bräuchte die Schweiz mehr ärztliches Personal. Im neusten Fachkräftemangel-Index des Personaldienstleisters Adecco und des Stellenmarkt-Monitors Schweiz der Uni Zürich sind sie nebst Pflegefachkräften und Apothekerinnen am dringendsten gesucht. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich der Mangel an Gesundheitsspezialisten gar zugespitzt.
Dass dieser Mangel zum Problem wird, hat der Bund schon vor sieben Jahren erkannt. 2016 genehmigten Bundesrat und Parlament eine Ausbildungsoffensive für künftiges Personal «made in Switzerland». Das Sonderprogramm, das die Schweiz 100 Millionen Franken kostete, hatte das Ziel, die Anzahl Abschlüsse von damals rund 850 auf mindestens 1300 pro Jahr bis 2025 zu erhöhen.
Man bildet mit jährlich 1300 Abschlüssen viel zu wenig Ärztinnen und Ärzte aus, um die Nachfrage zu decken.
Ein Schlussbericht der Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der schweizerischen Hochschulen (swissuniversities) von Anfang 2022 hält fest, dass dieses Ziel «voraussichtlich erreicht werden wird».
Auch das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan schrieb in einem im Mai publizierten Bericht, dass in vielen Fachgebieten der Bedarf nach ärztlichem Personal bei gleichbleibender Zuwanderung ausländischer Fachkräfte «knapp» gedeckt werden könne.
«Tropfen auf den heissen Stein»
Alles also nur halb so wild? Nein, sagt FMH-Präsidentin Gilli. Die Ausbildungsoffensive des Bundes sei ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Berechnungen basierten auf Daten von 2011, die falsch seien. «Man bildet mit jährlich 1300 Abschlüssen viel zu wenig Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz aus, um die Nachfrage zu decken.»
Laut Gilli müsste man die Ausbildungsplätze «deutlich» erhöhen. Es gebe bereits Anstrengungen dazu. Es würden aber auch finanzielle Mittel des Bundes benötigt, damit die Universitäten die nötigen Ausbildungsplätze schaffen könnten.
Kommt hinzu: Alleine die Erhöhung der Studienplätze gewährleistet nicht, dass sich die zusätzlich Ausgebildeten in denjenigen Fachgebieten spezialisieren, in denen der grösste Bedarf besteht – beispielsweise in der Psychiatrie. Denn dort fehlen besonders viele Fachkräfte.
Mitarbeit: Christian Rensch, Isabel Gajardo, Franziska Kohler