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Unfall im Gotthardtunnel Vertraulicher Bericht: systematisches Bremsproblem bei Güterzügen

Dass ein Güterzug wie im Gotthardtunnel entgleist, kann jederzeit wieder geschehen. Das zeigen Recherchen der «Rundschau».

Als am 10. August 2023 im Gotthard-Basistunnel ein Güterzug entgleiste, ging danach lange nichts mehr: Die Tunnelröhre war über ein Jahr lang gesperrt, es entstand ein Schaden von rund 150 Millionen Franken. Schuld am Unfall war ein gebrochenes Wagen-Rad. Recherchen der «Rundschau» zeigen jetzt: Es war keine Verkettung unglücklicher Umstände. Das Problem liegt beim Bremssystem, das bei den allermeisten Güterwagen zum Einsatz kommt.  

«Systematisches Problem»

Der «Rundschau» liegt der vertrauliche Entwurf des Schlussberichts der Schweizerischen Sicherheits­untersuchungs­stelle (Sust) vor. Darin heisst es: «Der Radscheibenbruch ist nicht auf einen Instandhaltungsmangel der Radsätze des Wagens 466-2 zurückzuführen (...) Es handelt sich hier um ein systematisches Problem.»

Entgleister Güterwaggon in Bahntunnel.
Legende: Unfall im Gotthard-Basistunnel: Ursache Radbruch. Keystone / Urs Flüeler

Denn die Untersuchung brachte ans Licht, dass alle Räder des Unfallwagens «die gleichen Rissmerkmale aufwiesen» – obwohl sie zum Teil deutlich neuer waren.

Solche Ermüdungsrisse entstünden durch «thermische Überbelastung». Konkret: Das Rad muss sich irgendwann einmal erhitzt haben. Das passiert zum Beispiel, wenn die Bremsen nicht ganz gelöst sind. Diese Überhitzung führte zu Rissen, die sich langsam ausdehnten – bis zum Radbruch.  

Namhafte Experten warnen 

Vier Eisenbahnexperten gelangten jetzt an die «Rundschau», um die Öffentlichkeit wachzurütteln. Denn das Risiko eines Radbruchs fahre bei fast allen Güterwagen mit – aus drei Hauptgründen:

  1. Die meisten Güterwagen werden noch immer mit Klotzbremsen gebremst. Ein Klotz drückt aufs Rad und erwärmt dieses unter Umständen. 
  2. Güterzüge fahren heute nicht mehr 60 bis 80 Kilometer pro Stunde, sondern 100. Damit müssen sie vor einem roten Signal viel stärker bremsen.
  3. Die Bremsklötze waren früher aus Gusseisen, das die Wärme besser ableitete. Die modernen, leiseren Bremsklötze sind aus Verbundstoff, welche die Wärme schlechter ableiten. 

Katastrophe mit Ansage 

Trotzdem seien die Wartungsvorschriften nie angepasst worden, sagen die Eisenbahnexperten. So muss ein Güterwagen bis heute nur alle acht Jahre oder 660’000 Kilometer in den Service. Zum Vergleich: Ein Auto muss da schon zwei Mal vorgeführt sein.  

Hanspeter Hänni, über zwanzig Jahre Sicherheitsexperte der Aufsichtsbehörde, dem Bundesamt für Verkehr, warnt: «Der Bericht zeigt klar auf: Wir haben ein systematisches Problem mit der Instandhaltung und das wirkt sich massiv auf die Sicherheit aus.» 

Die pensionierten Eisenbahnexperten können denn auch seit dem Unglück im Gotthardtunnel nicht mehr ruhig schlafen: Wenn ein Rad eines Güterzuges auf offener Strecke breche, in einem Tunnel mit Gegenverkehr oder gar in einem Bahnhof, dann gäbe es Dutzende von Toten, sagt etwa Ruedi Beutler, ehemaliger Flottenchef der SBB.

Seit Gotthard-Unglück 10 Räder gebrochen 

Erstmal nennt der vertrauliche Sust-Bericht auch Zahlen: So entdeckte eine europäische Taskforce nach dem Unglück im Gotthardtunnel 77 Fälle von Rissen, bei 10 war das Rad gebrochen. Doch mehr als eine unverbindliche Empfehlung für einzelne Radtypen, die bereits stark abgefahren sind, gab die europäische Aufsichtsbehörde nicht ab. 

Beinahe-Katastrophe im November 2024

Box aufklappen Box zuklappen

Als der Güterzug 46105 am 27. November 2024 durch die Schweiz fuhr, hatte einer der Wagen einen durchgehenden Riss in einem Rad. Dieser wurde erst im norditalienischen Domodossola per Zufall bei einer Bremsprobe entdeckt. Der Zug wurde sofort gestoppt. Gemäss Eisenbahnexperten war es pures Glück, dass das Rad nicht vorher brach und der Zug entgleiste. Von diesem gravierenden Vorfall erfuhr die Öffentlichkeit nichts. 

Der vertrauliche Schweizer Untersuchungsbericht fordert jetzt ein komplettes Umdenken: Es müssten alle Radtypen mit Klotzbremsen aus Verbundstoffen überprüft werden. Das sind fast alle Güterwagen, ausser ein paar wenige, die mit Scheibenbremsen gebremst werden (wie moderne Personenwagen).

Zudem müsse die Wartung auf den Kopf gestellt werden: «Die Sust empfiehlt, die Kriterien der Instandhaltungsvorgaben für Radsätze, die mit Verbundstoffbremssohlen gebremst werden, betreffend Intervall und Methodik anzupassen.» 

Machtlose Aufsichtsbehörde?

Beim Bundesamt für Verkehr betont man, es führe nichts an griffigen, europäischen Lösungen vorbei. Sprecher Andreas Windlinger: «Uns geht es zu lange. Wir wären auch froh, es würde schneller gehen, aber so ist die Realität und wir haben ein System, in dem wir eingebettet sind, das wir nicht von uns aus ändern können.» 

Die vier Eisenbahnexperten fordern die Verantwortlichen auf, akustische Detektoren entwickeln zu lassen, damit man wenigstens an der Grenze durchgehende Risse erkennen und gefährliche Züge sofort stoppen könnte.  

Parlament lehnt Vorstoss ab

Zudem müsse das Parlament noch einmal über die Bücher: In Zukunft müssten unbedingt Halter von Güterwägen und nicht wie bis heute das Transportunternehmen für Schäden haften. Nur so könne man die Güterwagen-Besitzer in die Pflicht nehmen.  

Einen entsprechenden Vorstoss hat das Parlament in der letzten Session allerdings knapp abgelehnt. Einer der Gegner war SVP-Nationalrat Benjamin Giezendanner. Er sagt gegenüber der «Rundschau»: «Dann würden einfach in Europa sehr viele Wagenhalter sagen: Meine Wagons kommen nicht in die Schweiz.» Das könne nicht im Sinne des Volkes sein.

HeuteMorgen, 26.2.2025, 6:00 Uhr

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