Bis anhin argumentierte der Bundesrat mit der Geografie und der Wirtschaft. Weil die Schweiz im Herzen Europas liege und weil der EU-Binnenmarkt der wichtigste Markt für die Schweizer Wirtschaft sei, brauche die Schweiz stabile Beziehungen zur EU. Neu argumentiert der Bundesrat auch geopolitisch.
Wir können diese riesigen internationalen Herausforderungen nur meistern, wenn wir stabile und gute Beziehungen mit der EU haben.
Bereits an der Medienkonferenz vom Freitag erwähnte Aussenminister Ignazio Cassis in einem Nebensatz die internationale Unsicherheit als weiteren Grund für eine Einigung mit der EU. In der «Samstagsrundschau» von SRF präzisiert er dies und spricht explizit von der «Zeitenwende».
Angesichts der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen, der Spannungen im Westbalkan sowie der Krisen im Kaukasus und in der Sahelzone seien stabile Beziehungen mit der EU unentbehrlich: «Wir können diese riesigen internationalen Herausforderungen nur meistern, wenn wir stabile und gute Beziehungen mit der EU haben.»
Eine Rolle spielt dabei auch, dass sich der Bundesrat offensichtlich von wirtschaftlichen Illusionen verabschiedet hat. Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens formulierten nicht wenige die Hoffnung, dass die Schweizer Wirtschaft stärker nach China, Südostasien und Afrika exportieren könnte. Heute sagt Bundesrat Cassis dazu: «Wir sehen, dass die Nachbarländer weiterhin mit Abstand die wichtigsten Absatzmärkte sind.»
Neue Transparenz
Neu an der bundesrätlichen Strategie ist auch seine Transparenz. Das ist eine Lehre aus den gescheiterten Verhandlungen für ein Rahmenabkommen. Es soll nicht mehr der Verdacht entstehen, da werde «versteckt» verhandelt und etwas «Unklares» gemacht. Deshalb hat der Bundesrat den «Entwurf für Verhandlungsleitlinien» veröffentlicht.
Damit ist nun für alle klar, was wo bis anhin erreicht wurde. Das Dokument zeigt beim Lohnschutz zum Beispiel, was der Bundesrat erreicht hat und dass die heutigen Lohnschutzregeln gleichzeitig aufgeweicht werden sollen. Die Gewerkschaften fordern deshalb schon lange innenpolitische Kompensationsmassnahmen.
Dabei kommt ihnen die neue Transparenz entgegen. Denn diese erhöht den Druck auf die Wirtschaft, sich zu bewegen. «Das kann man so sagen, und deshalb ist die Transparenz willkommen», sagt dazu Aussenminister Ignazio Cassis.
Ein weiteres Geheimdokument
Allerdings hat der Bundesrat nicht alles veröffentlicht. Auch das bestätigt Bundesrat Cassis. Es gibt ein weiteres bundesrätliches Geheimdokument vom 21. Juni «mit zusätzlichen Detailinformationen», das streng geheim bleibt. Dieses definiert die genaue Verhandlungstaktik, wie der Bundesrat in den Verhandlungen vorgehen will; und das dürfe Brüssel natürlich nicht wissen, erklärt Ignazio Cassis.
Man darf gespannt sein, wie es nun weiter geht. Die SVP hat bereits Fundamentalopposition angekündigt. Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat dem Bundesrat viel Glück gewünscht. Bundesrat Cassis ist optimistisch, dass das angepeilte Resultat auch innenpolitisch getragen werden dürfte. Er nimmt auf der linken Seite eine andere «Tonalität» wahr als noch vor kurzem.