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Radioaktiver Abfall: Bevölkerung vor Ort gibt sich pragmatisch
Aus Echo der Zeit vom 28.08.2022.
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Vor Entscheid zu Atom-Endlager Kaum Protest: Die Anti-Atombewegung hat an Strahlkraft verloren

Das Interesse, wo der radioaktive Abfall gelagert wird, hält sich an den möglichen Standorten in Grenzen.

Sonntagnachmittag, auf einer grünen Wiese zwischen Marthalen und Benken. Atomkraftgegner haben sich hier versammelt, um gegen das geplante Tiefenlager für radioaktiven Abfall zu demonstrieren. Das Zürcher Weinland (Zürich Nordost) ist einer von drei Standorten, den die Nagra für ein Tiefenlager in Betracht zieht. Der zweite liegt im Zürcher Unterland (Nördlich Lägern), der dritte ist im Kanton Aargau (Jura Ost Bözberg). Mitte September wird der endgültige Standort-Entscheid erwartet.

«Wir sind nicht der nationale Abfallkübel», steht auf einem Transparent, aufgespannt zwischen zwei Traktoren. «Mehr Rad-Aktivität statt Radio-Aktivität», verkündet ein anderes Plakat, etwas verloren, mitten auf dem Feld platziert. Auch die Schaffhauser SP-Nationalrätin Martina Munz will weiter gegen ein mögliches Tiefenlager in der Region kämpfen. Für sie sind noch zu viele Fragen offen, um jetzt einen Entscheid zu fällen. «Es sind noch längst nicht alle sicherheitsrelevanten Fragen geklärt.»

Falls etwas leckt, müssen wir das Lager ausräumen können.
Autor: Martina Munz SP-Nationalrätin Schaffhausen

Zwar honoriere sie die Bemühungen der Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle), Lösungen zu finden, aber es fehle zum Beispiel ein Konzept, um den Atommüll zurückzuholen. «Falls etwas leckt, müssen wir das Lager ausräumen können.» Ungeklärt seien auch die Folgen für das Tiefengrundwasser.

Plakat der Anti-Atom-Bewegung
Legende: Launige Parolen gegen das Unbehagen. Doch dass der Atommüll der Schweiz hierzulande deponiert werden soll, ist auch bei den Gegnern unbestritten. SRF/Dominik Steiner

Die kämpferischen Parolen auf Plakaten und in Reden täuschen jedoch kaum darüber hinweg, dass die Anti-Atom-Bewegung an Strahlkraft verloren hat. Wenige Hundert Menschen haben sich auf der Wiese im Zürcher Weinland eingefunden. Erwartet hatten die Organisatoren über tausend Teilnehmende. Noch 2008 hatten am selben Ort 2000 Menschen gegen ein mögliches Tiefenlager protestiert.

Ein Plakat von Tiefenlager-Gegner hängt zwischen zwei Traktoren
Legende: Für die Gegner eines Tiefenlagers sind noch zu viele Fragen ungeklärt. SRF/Dominik Steiner

«Heute wollen wir in dieser wunderbaren Landschaft Flagge zeigen, ihr dürft also gerne laut sein und applaudieren.» Der Appell von Mitorganisator Jean-Jacques Fasnacht an die Demonstrierenden wird engagiert quittiert, doch so laut wie auf der Wiese ist der Widerstand in den betroffenen Gemeinden nicht.

Resigniertes Schulterzucken und angespanntes Warten

Auf dem Dorfplatz in Marthalen sind sich die Angesprochenen weitgehend einig: «Irgendwo wird das Endlager hin müssen.» Klar sei es nicht schön, wenn es nach Marthalen komme. «Aber ich sehe nicht, dass wir das wahnsinnig steuern können.»

Jede Region wird glücklich sein, wenn der Kelch vorbeigeht.
Autor: Jürg Grau Präsident Regionalkonferenz Zürich Nordost

Andere wie Jürg Grau sind, nur Tage vor der Entscheidung, angespannt. Seit elf Jahren steht er als Vertreter des Zürcher Weinlands mit der Nagra im Austausch. «Der Ort, der bestimmt wird – da wird die ganze Welt hinsehen.» Für ihn sei zentral, dass die Nagra ihren Entscheid gut begründe. Dann werde auch die Bevölkerung mitziehen. Aber wie alle anderen, wäre er auch froh, wenn der Kelch an ihnen vorbeigehen würde. Die Stimmung sei sehr pragmatisch, sagt Barbara Franzen, FDP-Kantonsrätin und Mitglied der Regionalkonferenz Nördlich Lägern, aber auch etwas angespannt.

Man wartet etwas gespannt – oder auch angespannt.
Autor: Barbara Franzen Regionalkonferenz Nördlich Lägern

Was sie, aber auch ihr Kollege Ueli Müller von der Regionalkonferenz Jura Ost, vermissen, sei das Interesse der breiten Bevölkerung. Dass die Menschen erst reagieren, wenn der Entscheid gefallen ist und erst dann realisieren, dass sie kein Tiefenlager vor der Haustür wollen. Das sei ein Problem, sagt Müller, viele Leute hätten sich nur wenig mit dem Tiefenlager auseinandergesetzt: «Für die ist alles neu, da kommen immer dieselben Fragen.» Es seien aber Fragen, welche die Nagra beantworten müsse. In wenigen Tagen wird es so weit sein.

Die endlose Geschichte der Endlagersuche

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1969
Das erste Schweizer AKW Beznau I geht ans Netz.
1972
Die Betreiber der AKW und ein Vertreter des Bundes gründen die Nationale Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle, kurz Nagra.
1976
Die Nagra präsentiert ihr erstes Entsorgungskonzept. Bis 1985 will sie ein Endlager für die radioaktiven Abfälle gefunden haben.
1984
Mit dem AKW Leibstadt wird das letzte Schweizer Atomkraftwerk fertig gebaut.
1986
Am 26. April explodiert der Reaktor des AKW in Tschernobyl. Radioaktive Wolken erreichen wenige Tage später auch die Schweiz.
1987
Die Nagra verpasst die Forderung des Bundes, einen Standort für ein Endlager vorzuweisen. Bohrungen im Granit, Anhydrit und im Mergel waren erfolglos verlaufen. Zudem stösst die Nagra überall auf Widerstand aus der Bevölkerung.

Der Bundesrat verzichtet auf harte Konsequenzen und verpflichtet die Nagra lediglich, noch andere Gesteinsformen zu untersuchen.
1989
Beim Bau des Sondierstollens für den Mont Terri-Autobahntunnel stossen Ingenieure auf eine auffallend dichte und trockene Gesteinsschicht: den Opalinus-Ton.
1996
Das Mont Terri-Felslabor wird gebaut. Darin wird der Opalinus-Ton als mögliche Gesteinsschicht für ein Endlager erforscht.
1995
Im Kanton Nidwalden stimmt die Bevölkerung gegen den Bau eines möglichen Endlagers im Wellenberg. In der Folge verlieren die Kantone durch einen Parlamentsbeschluss ihr Vetorecht gegen ein Endlager.
2008
Das Bundesamt für Energie übernimmt die Führung bei der Suche nach einem Endlager. Der «Sachplan geologische Tiefenlager» tritt in Kraft.

In der Folge werden in den sechs Gebieten, die als Endlagerstandorte in Frage kommen, sogenannte Regionalkonferenzen gegründet – mit dem Ziel, die Bevölkerung enger in das Verfahren einzubinden.
2011
Am 11. März kommt es zur Reaktorkatastrophe von Fukushima. In der Folge beschliesst der Bundesrat, schrittweise aus der Atomenergie auszusteigen. Drei noch hängige Gesuche für neue AKW in der Schweiz werden sistiert.
2018
Drei der zuvor sechs untersuchten Gebiete werden in die engere Auswahl für einen Endlagerstandort aufgenommen: Zürich Nordost, Nördlich Lägern und Jura Ost.
September 2022
Die Nagra wird einen Standort als den bestgeeigneten für den Bau eines geologischen Tiefenlagers empfehlen. Teilt der Bund die Einschätzung der Nagra, kann sie eine Baubewilligung beantragen.

Diese Baubewilligung unterliegt dem fakultativen Referendum – die Schweizer Stimmbevölkerung wird also möglicherweise über den Bau eines Endlagers abstimmen.

Echo der Zeit, 28. 08. 2022, 18 Uhr

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