Im frisch gewählten Nationalrat politisieren neu drei Menschen mit Behinderung. So viele wie noch nie. Zum einen sind das die beiden bisherigen Mitte-Politiker Christian Lohr und Philipp Kutter. Zum anderen Islam Alijaj von der SP, der neu gewählt wurde.
Die drei Politiker waren auf der sogenannten Behindertenliste von Pro Infirmis, der Schweizer Dachorganisation der Menschen mit Behinderung. Pro Infirmis hatte für die Wahlen am Sonntag zum ersten Mal eine Liste mit Menschen mit Behinderungen präsentiert.
«Gewöhn dich dran»: Wahlkampagne von Pro Infirmis
Philipp Schüepp von Pro Infirmis spricht gegenüber SRF News von einer historischen Wahl. «Sie bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz drei Personen mit Behinderung in Bern die Anliegen von Menschen mit Behinderung selbst einbringen werden.»
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Bild 1 von 3. Mitte-Politiker Christian Lohr fehlen die Arme und seine Füsse sind missgebildet. Seit zwölf Jahren ist er für den Kanton Thurgau im Nationalrat und wurde nun für eine vierte Legislatur bestätigt. Bildquelle: Keystone/Alessandro della Valle.
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Bild 2 von 3. Vieles stehe ihm bei einer politischen Karriere im Weg, sagte Islam Alijaj vor der Wahl: seine Körperbehinderung, sein kosovarischer Migrationshintergrund und sein Vorname. Trotzdem hat er es in den Nationalrat geschafft. Bildquelle: Keystone/Anthony Anex.
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Bild 3 von 3. Philipp Kutter sitzt nach einem tragischen Skiunfall im Februar im Rollstuhl. In der vergangenen Herbstsession kehrte der Mitte-Politiker aus dem Kanton Zürich ins Parlament zurück, nachdem er zuvor schon seine Arbeit als Wädenswiler Stadtpräsident wieder aufgenommen hatte. Bildquelle: Keystone/Peter Klaunzer.
In der Schweiz ist rund jede fünfte Person von einer Behinderung betroffen, die sie in ihrer Selbstbestimmung einschränkt und mit der sie im öffentlichen Leben auf Hindernisse stösst. Reichen drei Parlamentarier in Bern aus, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen?
«Natürlich nicht, das Ziel ist eine adäquate Vertretung», sagt Pro-Infirmis-Vertreter Schüepp. Der Wahlerfolg vom Sonntag sei aber ein erster, grosser Schritt gewesen. «Und er wird viele Leute inspirieren, mitzumachen und dranzubleiben.»
Von den gewählten Politikern erhofft sich Pro Infirmis, dass die Themen, die Christian Lohr schon seit drei Legislaturen einbringt, nun noch mehr Präsenz bekommen. «Und das in verschiedenen Kommissionen zu ganz verschiedenen Themen», sagt Schüepp. Denn Menschen mit Behinderung hätten Anliegen, die quer über alle Gesellschafts- und Politikbereiche gehen würden.
Es gibt sehr, sehr viel zu tun.
Eine eigentliche Prioritätenliste in der Behindertenpolitik gebe es jedoch nicht. In einer repräsentativen Befragung von Pro Infirmis wurden Menschen mit Behinderung kürzlich gefragt, in welchen Lebensbereichen sie sich ausgeschlossen fühlen. «In diesem Inklusionsindex zeigte sich, dass dies alle Lebensbereiche umfasst», erklärt Schüepp. «Das bestätigt auch die UNO, die unsere ratifizierte Behindertenkonvention überprüft hat. Es gibt also sehr, sehr viel zu tun.»
Kein Bonus, sondern Abbau von Barrieren
Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Behinderung haben es bislang nicht ins Parlament geschafft. Pro Infirmis erhofft sich, dass dereinst etwa auch Menschen mit Autismus in Bundesbern eine Stimme haben. «Es sollte keine Rolle spielen, welche Behinderung jemand hat, um kandidieren, abstimmen und wählen zu können», sagt Schüepp.
Natürlich brauche es aber auch die Wählerschaft, die überzeugt werden muss – wie bei allen Politikerinnen und Politikern, die um den Einzug ins Parlament kämpfen. Heisst: Einen Sonderbonus brauchen Menschen mit Behinderung nicht. Aber Diskriminierungen und Barrieren, die sie von der politischen Teilhabe abhalten, sollen abgebaut werden.