Die Anliegen von Menschen mit Behinderungen würden im Moment grosse Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit geniessen. Diesen Rückenwind wolle man nutzen, sagt Philipp Schüepp, verantwortlich für Politik bei der Behindertenorganisation Pro Infirmis.
Denn viele Anliegen seien noch nicht umgesetzt. Als Beispiel nennt Schüepp das Behindertengleichstellungsgesetz, das die Schweiz vor fast zehn Jahren in Kraft gesetzt hat. Laut dem Gesetz müsste der ÖV bis Ende dieses Jahres barrierefrei sein. Heisst, auch im Rollstuhl müsste man mit Zug, Bus und Tram überall hinfahren können. Das Ziel werde nicht erreicht, so Schüepp. Und die Politik nehme das bis anhin auch so hin.
Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung betroffen
Auch die UNO hat die Schweiz gerügt. Zwar habe die Schweiz die Behindertenrechtskonvention vor fast zehn Jahren ratifiziert. Doch, davon sei zu wenig umgesetzt worden.
Auch diese Rüge hat den Menschen mit Beeinträchtigungen Auftrieb gegeben, glaubt Schüepp. Im letzten Jahr haben sie auf dem Bundesplatz demonstriert. Diesen Frühling haben 44 Menschen mit Behinderungen auf Initiative von Pro Infirmis eine Session im Bundeshaus durchgeführt. 44, das entspricht etwas mehr als einem Fünftel aller Nationalräte. Und laut einer Gesundheitsbefragung des BFS lebt ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung, mindestens vorübergehend, mit einer Behinderung.
Die Behindertensession sei einer der Gründe, warum sich Menschen mit Beeinträchtigung in der Politik engagieren wollten, mutmasst Christian Lohr. Dem Mitte-Politiker fehlen die Arme und die Füsse sind missgebildet. Seit zwölf Jahren ist er für den Kanton Thurgau im Nationalrat. In dieser Zeit habe sich einiges verändert, erzählt er. Die Kollegen gingen viel natürlicher mit ihm um als am Anfang. Auch inhaltlich sei der Rat für die Anliegen von beeinträchtigten Menschen offener geworden. So sei inzwischen der gesamte Bereich beim Präsidium und dem Rednerpult barrierefrei, man komme auch mit dem Rollstuhl hin.
Es braucht eine breite Basis an Menschen mit Behinderungen in der Politik, um diese Anliegen glaubwürdig und stark vertreten zu können.
Aber Lohr sagt, müsste für eine Massnahme Geld gesprochen werden, sehe es schon anders aus: «Da wird dann die Haltung schon wieder etwas zurückhaltender.» Die Finanzen seien meist das Killerargument. «Darum braucht es eine breite Basis an Menschen mit Behinderungen in der Politik, um diese Anliegen glaubwürdig und stark vertreten zu können.»
Er freut sich daher über die vielen Kandidierenden aus verschiedenen Kantonen und Parteien, die sich zur Wahl stellen.
Neuen Generation fordert Veränderungen
Eine davon ist Simone Leuenberger. Die EVP-Politikerin ist bereits im bernischen Kantonsparlament und kandidiert nun für den Nationalrat.
Ein Grossteil meines Lebens wird von der Behinderung gesteuert, weil wir nicht in einer inklusiven Welt leben.
Ein Behindertengleichstellungsgesetz und die UNO-Behindertenrechtskonvention gebe es schon länger, umgesetzt sei beides nicht: «Wir sind enttäuscht und merken, es muss wieder etwas gehen.» Eine neue Generation verlange jetzt Änderungen. Immer wieder stellt Leuenberger fest, dass viele Leute nicht wissen, wie Menschen mit Behinderung lebten, was sie bräuchten. «Ein Grossteil meines Lebens wird von der Behinderung gesteuert, weil wir nicht in einer inklusiven Welt leben.» Inklusiv heisst, jeder Mensch kann so wie er ist, am normalen Alltagsleben teilnehmen.
Leuenberger möchte nicht mehr immer abklären müssen, ob sie mit dem Rollstuhl einen Anlass überhaupt besuchen kann. Das solle selbstverständlich werden.