Mehr Frauen auf den Kandidierendenlisten für die Eidgenössischen Wahlen: So lautet das Ziel von «Helvetia ruft!». Bereits vor den Wahlen 2019 war die Bewegung aktiv und hat – laut eigenen Aussagen – dafür gesorgt, dass nun mehr Rätinnen unter der Bundeshauskuppel politisieren.
Denn: 2019 stieg der Frauenanteil im Nationalrat von 32 auf rekordmässige 42 Prozent – nachdem er seit 1971 (dem Jahr der Einführung des Frauenstimmrechts) zwar konstant gewachsen war, jedoch nie über vier Prozentpunkte von Legislatur zu Legislatur.
Seit dem vergangenen Herbst weibelt «Helvetia ruft!» erneut für das Anliegen, mehr Frauen auf die Wahllisten zu bringen.
Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit: Alle im Bundeshaus vertretenen Parteien haben ihre Wahllisten nominiert und eingereicht – «Helvetia ruft!» hat die Daten ausgewertet.
Ein Blick auf die 147 ausgewerteten Hauptlisten offenbart: Von den 1324 Kandidierenden sind 595 Frauen und 729 Männer.
Was Flavia Kleiner von «Helvetia ruft!» freut: «Es geht voran!» Die absolute Anzahl Kandidatinnen und der Frauenanteil hat über alle Hauptlisten betrachtet im Vergleich zu 2019 zugenommen – von 41 auf 45 Prozent. Dies, obwohl nach dem Zusammenschluss von CVP und BDP zur Mitte-Partei im Vergleich zu 2019 weniger Kandidierende auf weniger Listen antreten.
Über alle Kantone gesehen sind die Hauptlisten für die Nationalratssitze also weiblicher geworden – allerdings nur um vier Prozentpunkte.
Schaut man auf die einzelnen Parteien, so zeigt sich folgendes Bild: Am meisten zugelegt bei den Frauenkandidaturen auf den Hauptlisten für den Nationalrat hat die Mitte, gefolgt von der Grünliberalen Partei (GLP). Die Sozialdemokraten (SP) folgen an dritter Stelle – sind aber mit 55 Prozent an der Spitze, was den gesamten Frauenanteil an weiblichen Kandidierenden betrifft.
Zwar sind auf den Hauptlisten der Grünen ebenfalls viele Frauen vertreten – doch konnte sich die Grüne Partei Schweiz (GPS) als einzige Partei nicht steigern (-1 Prozentpunkt). Gleich viele Prozentpunkte zugelegt, nämlich zwei, haben die Freisinnigen und die SVP. Letztere liegt mit 25 Prozent Frauenanteil auf den Hauptlisten mit grossem Abstand auf dem letzten Platz.
Wer auf die Listen kommt und auf welcher Position eine Kandidatin oder ein Kandidat ins Rennen um einen Sitz unter der Bundeshauskuppel steigen darf, entscheiden die Kantonalparteien. «Auf diese kommt es an», so Kleiner. Denn: Sie haben es letztlich in der Hand, wie viele Frauen eine Chance haben, gewählt zu werden und somit auch, ob der Frauenanteil in den Eidgenössischen Räten steigt. Deshalb hat die Bewegung die Kantonalsektionen angeschrieben und sie aufgefordert, Frauen auf Positionen zu setzen, die auch Chancen auf eine Wahl haben.
Rechts: keine Vorgaben
Wie aber reagieren die Parteirepräsentanten auf die Zahlen? Die Präsidenten hatten ja im Vorfeld Hand geboten. Kleiner dazu: «Wir hatten auch das Wort von SVP-Parteipräsident Marco Chiesa, dass er zumindest mit mehr Frauen antreten will.»
Laut Marcel Dettling, Mitglied des SVP-Parteileitungsausschusses, habe man den Kantonalsektionen allerdings keine Vorgaben gemacht, was die Listengestaltung betreffe: «Wir haben gesagt, dass wir im Herbst gewinnen wollen und unbedingt Wählerstimmen und Sitze zulegen wollen.»
Laut Politologin Cloé Jans ist die Strategie der Partei durchaus in Übereinstimmung mit dem Wunsch der SVP-Wählenden. Und der sei nicht mehr Frauen im Parlament, wie die Wahlbefragung der letzten Parlamentswahlen gezeigt habe.
Auch bei der FDP ist man überzeugt, dass das Geschlecht bei der Wahlentscheidung eine untergeordnete Rolle spielt. Parteichef Thierry Burkart: «Ich bin überzeugt davon, dass unsere Wählerinnen und Wähler darauf schauen, ob eine Person, die sich zur Wahl stellt, qualifiziert ist und nicht, was sie für ein Geschlecht hat. Das ist eben gleichberechtigt.»
Politologin Jans attestiert der FDP prominente und profilierte Frauen in den eigenen Reihen und ist erstaunt. «Ich hätte gedacht, dass hier vielleicht noch ein bisschen mehr drin liegt. Aber insgesamt bleibt die FDP eine relativ traditionelle, wenn auch liberale Partei. Da braucht es vielleicht ein bisschen länger, bis das politische Personal für die Hauptliste so breit aufgebaut ist.»
Mitte-Parteien: Man hat «investiert»
Anders die GLP, die laut Parteipräsident Jürg Grossen «investiert» hat. «Wir haben die Kantonalsektionen finanziell unterstützt und das an die Bedingung knüpft, dass sie sich anstrengen, damit die Listen wirklich ausgewogen gestaltet sind.» Dementsprechend sei er nun zufrieden.
Zufrieden zeigt sich auch Gerhard Pfister, Chef der Mitte-Partei: «Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass wir Frauen ermutigen, zu kandidieren. Das heisst aber auch, dass wir ihnen gute Plätze und nicht nur die hintersten Listenplätze geben müssen. Das ist vielen Kantonalparteien besser gelungen als vor vier Jahren.»
Tatsächlich konnte die Mitte bei den Frauenkandidaturen am meisten zulegen. Laut Jans hatten die zwei ursprünglichen Parteien, CVP und BDP, tatsächlich etwas aufzuholen. Sie nennt den Kulturwandel durch die Fusion beider Parteien als einen Grund dafür, dass die Mitte relativ deutlich zugelegt hat. «Man möchte offensichtlich auch neues Wählerpotenzial ansprechen. Eine Verjüngung und eine weiblichere Listenzusammensetzung hilft da wahrscheinlich.»
Links: eher ein Männerproblem
Anders stellt sich die Frauenfrage bei den linken Parteien. Laut der Politologin müsse man dort, wo der Frauenanteil auf den Listen sogar über 50 Prozent liegt, eher schauen, «dass man den Männern signalisiert, dass sie weiterhin gute Chancen auf ein Mandat haben, dass sie willkommen sind, sich einzubringen und ebenfalls gefördert werden».
So hat Balthasar Glättli, der Chef der Grünen Schweiz, denn auch keine Probleme damit, dass seine Partei als einzige beim Frauenanteil auf den Listen nicht zugelegt hat. «Umgekehrt: Wir haben ein Männernachholbedürfnis.» Darum sei es gut, dass man eine ausgeglichene Listengestaltung, sogenannte «Zebra-Listen» habe.
Die SP, die Partei mit den meisten Frauen auf den Hauptlisten, will sich – obwohl sie die Parität längst erreicht hat, nicht auf den Lorbeeren ausruhen: «Wir müssen dranbleiben. Nach wie vor sind die Frauen im politischen System untervertreten. Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, für den Ausgleich zu sorgen», betont Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP.
Und so sagt auch Cloé Jans, dass sich die linken Parteien nun vor allem darauf konzentrieren müssen, das hohe Niveau der Gleichstellung von Frauen und Männern zu halten.
Schweiz steht gar nicht so schlecht da
«Es geht langsam voran, aber es geht voran», zieht Flavia Kleiner von «Helvetia ruft!» Bilanz. Politologin Cloé Jans relativiert allerdings: «Es ist kein riesiger Schritt.» Die Wahlen 2019 seien die grossen Frauenwahlen gewesen. Es müsse aber auch gesagt werden, dass fast alle grossen Parteien diesmal mehr als 40 Prozent Frauen auf ihren Hauptlisten hätten. Dies sei immerhin fast die Hälfte. Für die Zukunft dämpft sie allerdings die Erwartungen: «Ich glaube, es ist realistisch, dass wir jetzt nicht mehr riesige Schritte hin zu dieser Parität machen, sondern in langsameren Tempo – aber sicher – zu einem Anteil von 50:50 kommen.»
Trotz dieser eher ernüchternden Aussichten stellt Politologin Jans der Schweiz ein durchaus gutes Zeugnis aus: «Seit 2019 steht die Schweiz relativ gut da im europäischen Vergleich. Sie gehört zu den Ländern, die den grössten Frauenanteil im Parlament haben.» Die Schweiz stehe nicht ganz an der Spitze, «aber man muss auch sagen: Es gibt kein einziges Land in Europa mit einem Frauenanteil von 50 Prozent im nationalen Parlament».
Damit gibt sich Kleiner nicht zufrieden. «Helvetias Ruf wurde eindeutig gehört im Land – und er wird nicht verstummen. Bis die Schweiz eine Demokratie ist, die ihre Bevölkerung im Parlament repräsentiert.»