Auf diesen Moment haben Gian Liesch und Marcellina Alig seit einem Monat gewartet. Nun ist es endlich so weit: Das Landwirte-Paar darf für anderthalb Stunden ins Dorf. Wir begleiten sie bis zur Grenze der Sperrzone. Ab hier dürfen nur noch Einwohnerinnen und Einwohner weiter. Marcellina Alig freut sich: «Endlich kann ich wieder nach meinem Garten sehen.» Mit dabei hat sie eine Liste mit Spielsachen, die ihre Tochter ihr mitgegeben hat. Die 7-jährige Sarina musste viele ihrer Lieblingsspielsachen bei der Evakuierung im Dorf zurücklassen.
Auch Familienvater Gian Liesch freut sich. Die «Rundschau» trifft ihn, nachdem er wieder zu seinem Hof ins Dorf durfte: «Ich habe Treibstoff für meinen Traktor abgeholt und die Wasserleitungen kontrolliert - zu mehr hatte ich nicht Zeit.» Der Bauer ist aber trotz erstem Besuchstag nachdenklich: «Das ist nur ein kleiner Lichtblick. Ich frage mich, wann wir wieder in unsere Häuser einziehen können. »
Situation bleibt gefährlich
Christian Gartmann, Mediensprecher der Gemeinde Albula und Mitglied des Krisenstabs, hat Verständnis für die wachsende Ungeduld in der Bevölkerung. Die Situation bleibe aber nach wie vor gefährlich und es sei schwierig, eine Prognose für die Zukunft zu machen. Nach wie vor gilt für das Bündner Bergdorf die Phase Rot: absolutes Betretungsverbot.
Bereits zweimal hatten die Geologen und Naturgefahrenexperten des Frühwarndienstes Albula/Alvra der Bevölkerung von Brienz einen stundenweisen Zutritt ins evakuierte Dorf in Aussicht gestellt. Ebenso ein tageweiser Zugang für die Landwirte zu den Wiesen beim Dorf. Beide Vorhaben mussten die Behörden in den vergangenen Wochen aus Sicherheitsgründen kurzfristig absagen.
«Die Tiere waren mein Alltag»
Seit der Evakuierung von Brienz vor knapp einem Monat wohnt die Bauernfamilie mit ihren drei Kindern in Mon – auf der gegenüberliegenden Bergkette. Der Blick Richtung Heimat schmerzt sie. «Ich hatte es mit allen so gut. Ich brauche lange, dass ich mich irgendwo zu Hause fühle», so die Landwirtin Marcellina Alig.
Der fünfköpfigen Familie wird hier eine Ferienwohnung mit Garten zur Verfügung gestellt. «Hier wohnen geht eigentlich noch», so die 45-Jährige, «aber alle Tiere sind weg».
Die Kühe der Bauernfamilie fanden Platz in anderen Ställen der Umgebung. Ihre zahlreichen Kleinvögel, Gänse und Enten so wie ihre Meerschweinchen, Hasen und Schweine hat Alig bis auf Weiteres bei Freunden und Bekannten untergebracht. «Es ist komisch, ohne meine Tiere. Sie waren mein Alltag.»
«Uns wurde auf einen Schlag alles genommen»
«Innert der nächsten drei Tagen bis drei Wochen.» Landwirt Gian Liesch kann diesen Satz der Behörden nicht mehr hören. Er nervt sich über die Prognosen der Geologen zum drohenden Bergsturz. «Ich hätte lieber, wenn sie sagen würden: ‹Wir haben keine Ahnung, wie lange es noch dauert.›» Der Frust über die Ungewissheit ist gross. Und hat noch zugenommen, nachdem der Kanton diese Woche mitgeteilt hat, dass zurzeit keine Prognosen über eine Rückkehr ins Dorf gemacht werden können.
«Andere vom Dorf können wie gewohnt ihrem Job nachgehen, aber uns haben sie auf einen Schlag alles genommen», so der Landwirt, «unsere ganze Existenz ist blockiert». Liesch kann weder zu seinem Stall, noch hat er Zutritt zu seinen Wiesen nahe Brienz. Dieses Jahr gäbe es so viel Ertrag wie schon lange nicht mehr, sagt er. «Kann ich die Wiesen nicht bald mähen, geht alles ein.» Der Familienvater bangt um das Futter für sein Vieh und fürchtet Folgeschäden für seine Flächen.
Immerhin durfte Gian Liesch Anfang Woche auf seinen Wiesen im Sperrgebiet ein paar Stunden mähen. Um diese Zeit wäre normalerweise bereits der zweite Schnitt am Wachsen.