«Eine absolut neue Dimension»: So bezeichnete der Bündner Amtsleiter für Jagd und Fischerei, Adrian Arquint, den Angriff von mehreren Wölfen auf eine Mutterkuh in der Nacht auf Samstag am Schamserberg. Es handelt sich um den ersten Fall in Graubünden, bei dem ein ausgewachsenes Rind von Wölfen getötet wurde.
Der neue Vorfall verleiht der Diskussion um den Wolf als geschützte Tierart neuen Auftrieb. «Im Moment ist der Wolf König. Er kann sich alles leisten», sagte Nationalrat Martin Candinas (Mitte/GR) der «Tagesschau». Die Wölfe hätten keine Scheu mehr, weil sie spürten, dass sie keine Gegner haben und niemand etwas mache. «Jetzt müssen wir handeln, um noch Schlimmeres zu verhindern und damit wir auch in Zukunft eine funktionierende ökologische Landwirtschaft im Berggebiet haben können».
Candinas fordert jetzt eine proaktive Regulierung des Wolfes, also bevor überhaupt Schäden entstehen. In der Schweiz gilt der Wolf aber als geschützte Tierart.
Bafu betont den Herdenschutz
Laut dem Bundesamt für Umweltschutz (Bafu) sei es nach wie vor so, dass die meisten Nutztiere an Orten gerissen werden, an denen keine Herdenschutzmassnahmen ergriffen worden sind. Darum bestehe aktuell kein unmittelbarer Handlungsbedarf, schreibt das Bafu: «Um die Situation in den Gebieten mit wachsendem Wolfbestand kurzfristig zu entschärfen, hat der Bundesrat die eidg. Jagdverordnung für den Alpsommer 2022 bereits angepasst. Damit wird der Herdenschutz weiter gestärkt und die Kantone können rascher in Wolfsbestände eingreifen.»
Neu darf ein Rudel Wölfe nur reguliert werden, wenn ein Wolf zehn geschützte Tiere gerissen hat, zum Beispiel bewachte oder eingezäunte Schafe. Bei grossen Nutztieren wie Rindern oder Pferden sind es zwei Risse.
Proaktive Regulierung wurde abgelehnt
Von einer proaktiven Regulierung wollten aber die Stimmberechtigten bei der Abstimmung 2020 nichts wissen. Mit dem neuen Jagdgesetz wäre eine präventive Regulierung der Wolfspopulation vorgesehen gewesen. So hätten Tiere auch ohne Schäden abgeschossen werden dürfen. Das revidierte Gesetz wurde bei der Abstimmung aber abgelehnt.
Aktuell befasst sich der Ständerat mit dem Thema. So schlägt eine Mehrheit der Umweltkommission eine Gesetzesänderung des Jagdgesetzes vor und will die proaktive Regulation von Wolfsbeständen wieder einführen.
Problematisches Beverin-Rudel
In Graubünden sind die Vertreter des Kantons besorgt. Die Wölfe des mutmasslichen Beverin-Rudels würden sich bereits seit mehreren Jahren «sehr problematisch» verhalten. 2020 riss das Rudel einen Esel. Die Raubtiere seien geübt darin, Herdenschutzmassnahmen zu umgehen, sagt Jagd-Amtsleiter Arquint. Den Antrag, das Vatertier des Rudels abzuschiessen, hatte der Bund abgewiesen.
Die Wildhüter wollen nun die Wölfe vertreiben. Dafür soll am Rissort am Schamserberg ein Tier des Beverin-Rudels narkotisiert und mit einem GPS-Sender ausgerüstet werden. Mit dem Peilsender wollen die Behörden mehr Informationen über das Verhalten der Tiere sammeln. Ausserdem würde eine solche Aktion die Raubtiere «vergrämen».
Im Streifgebiet dieses Wolfsrudels ist laut dem Kanton die vom Bund für sogenannte Regulationsabschüsse vorgegebene Schwelle der Anzahl gerissener Nutztiere bereits vor dem Vorfall mit der Mutterkuh auf der Alp Nurdagn erreicht worden. Ein Abschuss sei aber erst möglich, wenn die Zahl der Jungtiefe des Rudel bestätigt sei. Dies könne noch bis Anfang September dauern, sagt Jagd-Amtsleiter Arquint. Erst dann werde voraussichtlich die Hälfte der Jungtiere abgeschossen.