Wohnungsnot ist vor allem ein Thema, das man aus Schweizer Grossstädten wie Zürich oder Basel kennt. Doch auch immer mehr Bergdörfer sind davon betroffen. Ein besonders gravierendes Beispiel ist Pontresina im Engadin, im Herzen der Schweizer Alpen. Mit 65 Prozent Zweitwohnungen – Tendenz steigend – wird es für Einheimische zunehmend schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
Nora Saratz Cazin, Gemeindepräsidentin von Pontresina, steht vor der Herausforderung, Lösungen für dieses Problem zu finden. Eine der vorgeschlagenen Massnahmen ist die höhere Besteuerung von Zweitwohnungen. Damit sollen Eigentümer von Zweitwohnungen ermutigt werden, diese an Einheimische zu vermieten, wenn sie ungenutzt bleiben.
Wer kann ausschliessen, dass in zehn Jahren Zürcher als Klimaflüchtlinge ins Engadin ziehen wollen?
Die Mehrheit der Bevölkerung von Pontresina lehnt die Einführung neuer Steuern oder Abgaben aber ab. Dies zeigt sich erstmals in den Ergebnissen eines Mitwirkungsverfahrens zu diesem Thema. «Natürlich ist es so, dass in unserer Gesellschaft momentan jeder am meisten auf sein eigenes Portemonnaie achtet», sagt Gemeindepräsidentin Saratz Cazin.
Trotzdem unterstützen rund 70 Prozent der Stimmberechtigten in Pontresina die Auffassung, dass die Gemeinde aktiv werden sollte, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken. Dies überrasche nicht. «Wenn die Klimaerwärmung weiter voranschreitet: Wer kann ausschliessen, dass in zehn Jahren Zürcher als Klimaflüchtlinge ins Engadin ziehen wollen?» Man spüre bereits eine Tendenz, dass vor allem diejenigen über einen solchen Umzug nachdenken, die es sich leisten könnten, sagt Saratz Cazin.
Auf weniger Widerstand gestossen ist die Finanzierung der «Fundaziun da Puntraschigna» aus dem Gemeindevermögen. Mit der Stiftung will die Gemeinde mehr bezahlbare Wohnungen für Einheimische schaffen. Bis zu 25 Wohnungen sollen in den nächsten vier Jahren so entstehen. Investiert werden sollen bis 2028 16 Millionen Franken – je zur Hälfte aus Eigenmitteln der Gemeinde und Dritter sowie Fremdkapital von Banken, Pensionskassen und Fördergeldern von Bund und Kanton.
Familien ziehen weg, die Schülerzahl nimmt ab, Steuereinnahmen sinken und die Gemeinde verliert an Attraktivität.
Dass in Pontresina eine Wohnungsnot herrsche, zeige die Leerwohnungsziffer, sagt Daniel Studer, Senior-Projektleiter bei einem Planungs- und Beratungsunternehmen. Er hat eine Wohnraumanalyse für Pontresina erarbeitet. 0.39 Prozent der Wohnungen im Engadiner Dorf stehen demnach leer, was massiv unter dem Schweizerischen Mittel von 1.15 Prozent sei. «Hinzu kommt eine steigende Preisentwicklung. Deshalb muss von einer Wohnungsnot gesprochen werden.»
Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, müsse mit unerwünschten Nebenwirkungen gerechnet werden. «Familien ziehen weg, die Schülerzahl in den Schulen nimmt ab, es fehlen Personen für die Freiwilligenarbeit, Steuereinnahmen sinken und die Gemeinde verliert an Attraktivität – nicht zuletzt auch für potenzielle Zuzüger.»
Kein Einzelfall
In vielen Bergdörfern wie Zermatt, Grindelwald und Andermatt sehen sich die Gemeinden ähnlichen Herausforderungen gegenüber. Der Leerstand in touristischen Gemeinden ist stark gesunken, das zeigt ein Blick in die Leerwohnungsziffer des Bundesamtes für Statistik.
In Andermatt steht praktisch keine Wohnung mehr leer – nur 0.15 Prozent. Gleichzeitig zeige sich ein deutlicher Anstieg der Marktpreise für Einheimische aufgrund des Wachstums durch das Tourismusresort, schreibt die Gemeinde in ihrem Siedlungsplan 2024. «Immer mehr junge Menschen, Familien und Angestellte finden keine erschwinglichen Wohnungen mehr.» Dies führe zu einer drohenden Abwanderung und gefährde das kulturelle und traditionelle Leben der Gemeinde.
Um entgegenzuwirken, hat der Gemeinderat von Andermatt eine Liegenschaft gekauft, um bezahlbaren Wohnraum für die Einheimischen zu sichern.
«Bezahlbarer Wohnraum wurde knapp, auch aufgrund des hohen und steigenden Zweitwohnungsanteils», schreibt die Gemeinde. Obwohl das Schweizer Stimmvolk 2012 die Initiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» knapp annahm, fürchte sich Andermatt vor genau diesem uferlosen Bau von Zweitwohnungen in Zukunft und einer noch stärkeren Verschärfung des Problems.
Grund dafür sind die hohen altrechtlichen Wohnungsbestände. Bei diesen sieht das Zweitwohnungsgesetz eine Ausnahme vor. Wohnungen, die vor 2012 gebaut wurden, können frei genutzt und bei einem Umbau um bis zu 30 Prozent vergrössert werden. «Aufgrund eines hohen altrechtlichen Wohnungsbestandes könnte der Zweitwohnungsanteil in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nochmals massiv ansteigen», heisst es aus Andermatt.
Auch Zermatt kämpft mit einer Wohnungsnot. Der Anteil leer stehender Wohnungen betrug 2023 0.29 Prozent. Um entgegenzuwirken, hat der Zermatter Gemeinderat eine Fachstelle für «Standortentwicklung» geschaffen, eine Genossenschaft zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum eingerichtet und das Reglement einer zusätzlichen Handänderungssteuer eingeführt. Die Erfolge stünden noch aus.
Wenn es um Geld geht, steht die Solidarität hinten an.
Auch in Zermatt steige der Druck auf Altbauten, schreibt die Gemeinde. Die Zweitwohnungsgesetze des Bundes decken die Bedürfnisse von Zermatt nicht. Es bestehe trotz Zweitwohnungsinitiative eine hohe Nachfrage, die sich nun einfach auf altrechtliche Wohnungen verschiebe, weil diese nicht geschützt sind.
Die Initiative greife deswegen nicht abschliessend, sagt Romy Biner-Hauser, Gemeindepräsidentin von Zermatt: «Eine Dorfgemeinschaft lebt nur mit und von den Einwohnern.» Es brauche Solidarität. «Aber wenn es um Geld geht, steht diese hinten an.»
In Grindelwald betrug der Anteil leer stehender Wohnungen 2023 0.13 Prozent. Trotzdem sagt Gemeindepräsident Beat Bucher: «Wir haben nicht unbedingt eine generelle Wohnungsnot.» Es gebe jedoch kein angemessenes Angebot für Menschen mit geringem Einkommen. Hinzu komme, dass Wohnungen oftmals zuerst an Gäste vermietet werden – wegen höherer Ertragsaussichten als bei Vermietungen an Einheimische.
Die Herausforderung sei jetzt die «Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für Personen mit Lebensmittelpunkt in Grindelwald», sagt der Gemeindepräsident. Dafür will Grindelwald seine Liegenschaften durch Renovationen und Umbauten bereitstellen. Auch gemeindeeigenes Land soll im Baurecht bereitgestellt werden – mit der Vorgabe, dass preisgünstiger Wohnraum realisiert werden soll. Es ist eine ähnliche Massnahme wie in Andermatt.
Die künftige Entwicklung beurteilt Beat Bucher als «eher kritisch und wenig erfolgversprechend». Die Gemeinde könne nicht aktiv in den Liegenschaftsmarkt eingreifen. «Geld regiert die Welt. Es gibt praktisch keine oder nur vereinzelt Liegenschaftsbesitzer, die auf einen möglichen Ertrag verzichten», sagt Bucher.
Woher stammt das Problem?
Dass es so weit kommen konnte, hat mit einem knappen Angebot an Wohnraum und einer erhöhten Nachfrage zu tun. Diese werden im Berggebiet von verschiedenen Faktoren beeinflusst, sagt Daniel Studer, der die Wohnraumanalyse für Pontresina erarbeitet hat.
- Raumplanungsgesetz: Innenentwicklung vor Aussenentwicklung
- Zweitwohnungsgesetz: kein grenzenloser Neubau mehr, Umnutzungen von altrechtlichen Wohnungen
- Wohnbautätigkeit-/verfügbarkeit: neu erstellte Wohnungen und Wohnungsfreisetzungen
- Wechselkurs-Niveau: der starke Franken und die Nachfrage aus dem Ausland
- Entwicklungen auf dem internationalen Finanzmarkt: Immobilien als rentable Anlagen
- Coronavirus: Ferien im Inland und in der Bergwelt wurden beliebter
- Ukraine-Krieg: Bedürfnis nach Sicherheit
- Gegentrends zu Megatrends: zum Beispiel das Revival des Dorfes oder die Bergfrische
Der genaue Grund, wieso die Wohnungsnot steigt, könne nicht eindeutig festgemacht werden und sei gemeindespezifisch, sagt Studer. «Gemeinsam ist den Dörfern vielleicht, dass sie in den Alpen liegen, umgeben von meist einzigartigen Landschaften. Dadurch hat die Tourismusbranche eine grosse Bedeutung – mit allen Vor- und Nachteilen, die Tourismus mit sich bringt.»
Die Wohnungsnot kann aufgrund der verschiedenen Effekte gar noch zunehmen.
Wie es mit der Wohnungsnot in den Bergregionen weitergehen könnte, dazu gebe es keine einfache Antwort, meint Daniel Studer. Was er sagen kann: «Die Herausforderungen aufgrund übergeordneter Rahmenbedingungen und Megatrends nehmen tendenziell zu.» Damit meint Studer zum Beispiel Bundesgesetze oder den demografischen Wandel, die Globalisierung oder den Klimawandel.
Die Wohnungsnot könne aufgrund der verschiedenen Effekte gar noch zunehmen. Und zwar, «bis sich an den Einflussfaktoren etwas ändert und die Gemeinden, zusammen mit weiteren relevanten, verantwortlichen Akteuren, eventuell mit Unterstützung durch Kanton und Bund, effektive Massnahmen ergreifen.»