Der einzelne Wolf in der oberen Surselva sei schon seit Wochen mit seinem äusserst problematischen Verhalten aufgefallen, sagt der Bündner Jagdinspektor Adrian Arquint. Immer wieder sei es zu Begegnungen mit Menschen gekommen. Mehrere Versuche, das Tier mit einem Sender zu versehen und mit Gummischrot zu vergrämen, seien gescheitert. «Diese Ereignisse haben in den letzten Wochen stark zugenommen, mit einer Akzentuierung am letzten Wochenende.»
Länger zuwarten bei diesem Wolf geht nicht, das ist zu gefährlich.
Am vergangenen Sonntagmorgen früh um Viertel nach sechs habe eine Augenzeugin Beunruhigendes erlebt, erzählt Arquint. Der Wolf habe sich ihr bis auf zwei Meter genähert und sei dort über einen längeren Zeitraum geblieben, bevor er sich in Richtung Dorf davon gemacht habe. Da habe man handeln müssen, sagt der Jagdinspektor: «Man ist zum Schluss gekommen: Länger zuwarten geht nicht, das ist zu gefährlich.»
Regelung für Wolfsrudel
In der Nacht auf den Donnerstag hat der Kanton Graubünden das Einzeltier deshalb in unmittelbarer Nähe einer Siedlung abgeschossen. Das ist an und für sich nichts Aussergewöhnliches, immer wieder werden sogenannte Problemtiere erlegt. Den Fall speziell macht die Tatsache, dass der Kanton ohne Abschussbewilligung des Bundes gehandelt hat. Er stützt sich dabei auf die polizeiliche Generalklausel, ein Instrument aus dem Polizeirecht. Sie ermöglicht ein Handeln ohne gesetzliche Grundlage, sofern eine Gefahr «schwer» ist und «unmittelbar bevorsteht». Der Kanton Graubünden sah dies im vorliegenden Fall als erfüllt an.
Das geltende Jagdgesetz besagt, dass Kantone geschützte Tierarten – und der Wolf gehört dazu – mit vorheriger Zustimmung des Umweltdepartements von Bundesrätin Simonetta Sommaruga abschiessen dürfen, sofern sie einen zu hohen Bestand aufweisen und dadurch grosser Schaden oder eine erhebliche Gefährdung entsteht. Diese Formulierung lässt also eigentlich nur Abschüsse zu, wenn es sich um Wölfe in einem Rudel handelt.
Hier gibt es eine Gesetzeslücke
Was einzelne Wölfe betrifft, erlaubt das Jagdgesetz den Kantonen zwar, selber und ohne Bewilligung des Bundes, Massnahmen zu beschliessen, aber nur, sofern die Tiere «erheblichen Schaden» anrichten. Die Gefährdung von Menschen gehört nicht dazu. Da besteht also eine Gesetzeslücke, die mit der Revision des Jagdgesetzes hätte geschlossen werden sollen. Bloss hat das Schweizer Stimmvolk diese Vorlage im Herbst 2020 abgelehnt. Deshalb greift der Kanton Graubünden zur polizeilichen Generalklausel.
Unter diesen Umständen ist es für uns nachvollziehbar, dass man diesen Wolf abgeschossen hat. Für den Wolfsbestand an sich ist das kein Problem.
Für die Umweltschutzorganisation Pro Natura sei das in Ordnung, sagt Grossraubtierexpertin Sara Wehrli. Der Wolf habe tatsächlich ein sehr problematisches Verhalten gezeigt: «Unter diesen Umständen ist es für uns nachvollziehbar, dass man diesen Wolf abgeschossen hat. Für den Wolfsbestand an sich ist das kein Problem.»
Beim Bundesamt für Umwelt Bafu in Bern heisst es auf Anfrage, man verlange vom Kanton Graubünden zu diesem Abschuss nun weitere Informationen. Auf dieser Grundlage werde das Bafu dann die Anwendung der polizeilichen Generalklausel überprüfen. Das letzte Wort bei diesem für die Bergkantone hochemotionalen Thema ist noch nicht gesprochen.