«Siehst du die Leute? Die müssen hier auf dem Schwarzmarkt ihre Drogen kaufen.» Hakan T. steht am Gleis 3 beim Hauptbahnhof Zürich. Der Suchtkranke erzählt von einer offenen Drogenszene vor unseren Augen – während Kinder, Arbeiterinnen und Touristen vorbeigehen.
Hier am Gleis 3 werde gedealt – und zwar mit Diaphin. Das ist medizinisches Heroin. Für Nicht-Süchtige sind bereits kleinste Mengen tödlich. «Es sind ganz viele Leute gestorben wegen dieser Tablette», sagt Hakan T.
Das Diaphin wird nur wenige Meter vom Gleis 3 entfernt bei der Drogenabgabestelle ARUD legal an schwer Heroinabhängige mitgegeben – oft für mehrere Tage. Die Süchtigen erhalten so reines, medizinisches Heroin anstatt dem gestreckten Heroin von der Gasse.
Wir erreichen damit eine Verminderung des Sterberisikos.
Für Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie bei der ARUD ist das Mitgabemodell ein Erfolg: «Das ist eine der wirksamsten Therapien. Wir erreichen damit eine Verbesserung der Gesundheit und eine Verminderung des Sterberisikos.»
Auch Hakan T. hat schon Diaphin als Ersatz für das Gassenheroin erhalten. Er weiss: Viele verkaufen das Diaphin auf dem Schwarzmarkt weiter – obwohl es verboten ist. «Das machen wirklich alle.» Gegenüber der «Rundschau» haben viele Süchtige den Handel am Gleis 3 bestätigt. Auch die Kantonspolizei Zürich, die für die Sicherheit am Hauptbahnhof zuständig ist, weiss vom Handel.
Geld für Kokain
Die Recherche zeigt: Immer wieder kommen Süchtige vorbei und bieten Diaphin an. «Willst du ein Dia?» Eine Tablette kostet auf dem Schwarzmarkt 20 Franken. Hakan T. gibt zu: Auch er habe schon Diaphin verkauft. «So konnte ich meinen Drogenkonsum finanzieren, weil ich sonst kein Geld hatte.» Heroinabhängige beschaffen sich offenbar mit dem Verkauf von Diaphin Geld für andere Drogen – oft Kokain, mit dem sie Crack und Freebase herstellen.
Vor der Coronapandemie erfolgte die Abgabe nur in seltenen Fällen für mehrere Tage. Im Zuge der Pandemie wurden die Abgabebedingungen für Diaphin gelockert – heute erhalten rund 450 Personen in Zürich ihr Diaphin gleich für mehrere Tage. Erhebungen der Stadtpolizei Zürich zeigen: Seit der Pandemie wird jährlich mehr als doppelt so viel Diaphin sichergestellt als vorher.
Kritik an der Mitgabe
Doch in anderen Abgabestellen erfolgt die Diaphin-Abgabe unter strengeren Auflagen als in Zürich. ARUD-Psychiater Thilo Beck hält Kritik an der lockeren Mitgabepraxis aber für unangebracht. «Wir wissen, dass die meisten sehr korrekt und verantwortungsvoll mit der Medikation umgehen. Nur ein kleiner Teil, 5 - 10 %, hat Schwierigkeiten.»
Bei einer Einschränkung der Diaphin-Mitgabe würde ein Grossteil der Patienten bestraft. «Es geht darum, Menschen mit einer chronischen Erkrankung bestmöglich zu unterstützen und ihnen so viel Autonomie wie möglich zu geben.» Beck geht sogar noch weiter und fordert die Mitgabe von Diaphin für bis zu einem Monat.
Hakan T. nimmt Drogen, seit er 18 Jahre alt ist. Er sorgt sich um junge Menschen, die am Gleis 3 einfach Diaphin erhalten und für immer in die Drogen rutschen. «Junge Leute nehmen Diaphin als Erstdroge. Ich bin erschrocken, als ich ihre jungen Gesichter gesehen habe.» Thilo Beck von der ARUD betont: «Wir machen alles Mögliche, um das zu vermeiden. Aber ein Restrisiko bleibt.»