Es ist mitten in der Nacht, ein kalter Herbstwind zieht über den Col de Jaman. Der Pass hoch oben über Montreux ist einer jener Alpenpässe, den Zugvögel auf ihrer Reise in den Süden überqueren müssen. Doch in den Himmel ragen hohe Netze. Lionel Maumary kontrolliert mit der Taschenlampe, ob sich bereits ein Vogel verfangen hat.
Mit den Netzen fängt er die Vögel für die Forschung – um sie kurz darauf wieder freizulassen. «Diese Netze sind über 9 Meter hoch, das sind die höchsten der Schweiz.» Gefangen würden aber nur jene Vögel, die nahe am Boden fliegen. «Das ist einer von 1000 oder 10'000, je nach Art», sagt Lionel Maumary. Der Ornithologe hat hier vor 30 Jahren eine Vogelbeobachtungs- und Beringungsstation gegründet – damals als Student. Über die Jahrzehnte hat er beobachtet, wie sich die Vogelpopulationen verändern.
Insektenfresser haben's schwer
Doch zuerst geht ein anderes Tier ins Netz: eine Fledermaus. Diese Art migriert zwar nicht über weite Strecken wie die Zugvögel, war aber wohl auf dem Weg zu einem Winterquartier in einer Höhle in der Höhe. Hier oben, am Col de Jaman, ist mit etwa 20 beobachteten Arten die Fledermaus-Vielfalt besonders gross.
Doch ihre Zahl ist über die Jahre zurückgegangen. Die intensive Landwirtschaft entziehe ihnen die Nahrungsgrundlage, erklärt Lionel Maumary. «Die Fledermäuse leiden stark unter dem Einsatz von Pestiziden. Es läuft leider nicht so gut – für alle Insektenfresser. Das gilt für Vögel wie Fledermäuse.»
Maumarys kleine Forschungsstation auf 1600 Meter ist rund um die Uhr besetzt. Das geht nur mithilfe von Spendengeldern und, vor allem, dem unermüdlichen Einsatz von Zivildienstleistenden und freiwilligen Helfern. Nicolas Orliac ist einer von ihnen. Der junge Biologe aus Frankreich hat fast drei Monate hier verbracht.
Volle Netze am frühen Morgen
Sein Dienst beginnt mitten in der Nacht. In den frühen Morgenstunden gibt es die meiste Arbeit, denn viele Vögel migrieren in der Nacht. «Am Morgen machen sie eine Pause und kommen in Bodennähe, um zu fressen», erklärt Nicolas. «Dann fliegen sie tiefer – und in unsere Netze.» Anschliessend werden die Vögel beringt. Die Ringe kommen in der ganzen Schweiz von der Vogelwarte Sempach. Beringen dürfen nur jene Freiwilligen, die ein Diplom dazu haben.
Art, Geschlecht, Gewicht und Flügellänge – auch das wird bei der kurzen Untersuchung für jeden Vogel notiert. Dann bläst Nicolas dem Tier ins Gefieder – und gibt per Zahlencode durch, wie es um die Fettleibigkeit des Vogels steht. Anna, auch sie eine Freiwillige, führt die Statistik. Obwohl nur wenige der beringten Tiere wiedergefunden werden, gibt die Summe der Beobachtungen vor Ort ein Bild des Zustands der Vogelpopulationen.
Klimawandel verdrängt nordische Vögel
Ein weiterer seltener Fund geht ins Netz: eine Ringamsel. «Diese nordische Subspezies zieht sich immer mehr in den Norden Europas zurück», so Maumary. «Das ist ein Effekt der Klimaerwärmung.»
Aber: «Wir sehen nun auch Arten hier, die es vorher nicht gab», so Maumary. «Allerdings merkt man, dass sie im Süden Europas schwinden, etwa in Portugal. Es gibt also eine Art Verschiebung.» Es gebe in puncto Klimawandel darum nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner – zumindest aus Schweizer Sicht.