Darum geht es: Rund 30 Prozent der Menschen, die eigentlich Anspruch auf Sozialleistungen haben, beziehen diese nicht. Sie leben unter dem Existenzminimum. Das hat Folgen: Viele ernähren sich schlecht oder verzichten auf Zahnarztbesuche. Unter der prekären Lage leiden auch ihre Kinder. Die Gründe für den Nichtbezug sind vielfältig: Viele verstehen das System zu schlecht, scheitern an den administrativen Hürden, sind akut überfordert, es gibt aber auch Betroffene, die Angst vor Stigmatisierung haben oder davor ausgewiesen zu werden.
Die öffentliche Hand ist in einem Dilemma: Wenn Menschen in prekären Verhältnissen leben, hat dies Folgekosten für die öffentliche Hand, weil sich häufig ihre Gesundheit verschlechtert, sie sich verschulden und irgendwann doch noch Sozialleistungen beziehen. Gleichzeitig sparen die Steuerzahlerinnen und -zahler aber auch viel Geld, wenn Leistungen nicht bezogen werden. Wenn alle das Geld beziehen würden, auf das sie Anspruch haben, würde das zusätzlich schätzungsweise über 1.2 Milliarden Schweizer Franken kosten – jährlich.
Das tut der Bund gegen den Nichtbezug: Der Bund versucht die verschiedenen Akteure zu vernetzen, gute Beispiele aus den Kantonen bekannt zu machen und ein Armutsmonitoring mit Zahlen zum Nichtbezug aufzubauen. Direkt gegen den Nichtbezug tut er aber nichts. Astrid Wüthrich, Vizedirektorin des Bundesamts für Sozialversicherungen, sagt: «Den Zugang und Kontakt zu den Behörden können nur die Kantone und Gemeinden verbessern.» Bei den Ergänzungsleistungen ist der Bund aber gemeinsam mit den Kantonen zuständig. Was tut der Bund da? Wie man dieses Thema mit den Kantonen angehen, sei noch zu klären, sagt Wüthrich. Der Kanton Jura hat den Bund kürzlich in einer Standesinitiative aufgefordert, den Zugang zu den Ergänzungsleistungen zu erleichtern oder sie sogar automatisch auszuzahlen.
Das tun die Kantone und Gemeinden gegen den Nichtbezug: Sieben Kantone berechnen den Anspruch auf Prämienverbilligungen direkt anhand der Steuer- und Registerdaten und zahlen sie automatisch aus. Dieser Ansatz liesse sich auch auf andere Sozialleistungen übertragen oder man könnte mögliche Anspruchsberechtigte darauf hinweisen, dass sie ihren Anspruch prüfen lassen sollen. 73 Gemeinden des Kantons Waadt haben eine Organisation gegründet, die direkt auf mögliche Betroffene zugeht, schaut, was sie brauchen und sie, wenn nötig, zu den Behörden begleitet. Der Kanton Jura hat eine Kampagne an öffentlichen Orten und in Zeitungen durchgeführt. Darin ruft er die Menschen auf, ihr Geld abzuholen. Viele Kantone scheinen aber keinen dringenden Handlungsbedarf zu sehen.
Studien zum Nicht-Bezug von Sozialleistungen
- Im Kanton Bern beziehen über 26 Prozent keine Sozialhilfe, obwohl sie einen finanziellen Anspruch darauf hätten. Im Kanton Bern beziehen über 26 Prozent keine Sozialhilfe, obwohl sie einen finanziellen Anspruch darauf hätten.
- Eine frühere Studie kam auf über 36% für den Kanton Bern. Eine frühere Studie kam auf über 36% für den Kanton Bern.
- In Basel-Stadt beziehen u.a. 19% keine Prämienverbilligungen und 29% keine Ergänzungsleistungen zur AHV. In Basel-Stadt beziehen u.a. 19% keine Prämienverbilligungen und 29% keine Ergänzungsleistungen zur AHV.
- In Basel-Landschaft beziehen 37.6% der Anspruchsberechtigten keine Sozialhilfe. In Basel-Landschaft beziehen 37.6% der Anspruchsberechtigten keine Sozialhilfe.
- Studie der ZHAW: 70% Nicht-Beziehende bei den Ergänzungsleistungen zur AHV für jene älteren Menschen, die Zuhause leben. Studie der ZHAW: 70% Nicht-Beziehende bei den Ergänzungsleistungen zur AHV für jene älteren Menschen, die Zuhause leben.