Einst galt die Autoindustrie als Motor des deutschen Wohlstands – und der Stolz der Nation. Gerade die Autos von VW, die massenhaft verkauft wurden. Der Käfer und Golf waren Kult. Nun das: VW will offenbar mindestens drei Werke schliessen, zehntausende Arbeitsplätze könnten verloren gehen. Der ehemalige VW-Historiker Manfred Grieger über die Krise des Autobauers, die am deutschen Selbstverständnis nagt.
SRF News: Trifft es einen deutschen Nerv, wenn ausgerechnet Volkswagen kriselt?
Manfred Grieger: Volkswagen ist ein Unternehmen mit Symbolwert für Deutschland und seine Geschichte. Im Wirtschaftswunder und im «Golf-Zeitalter» stand es für Wachstum und Erfolg. Nun ist VW am Scheideweg. Die Welt ist grösser geworden. Die Selbstverständlichkeit, mit der Deutschland die Nummer eins in gewissen Industrien war, schwindet.
Schmerzt Sie die Lage des Konzerns als ehemaliger VW-Historiker besonders?
Für die Menschen, die ihr Leben mit VW verbunden haben, ist es eine Herausforderung. Ich bin schon ein bisschen älter, da lässt sich das leichter verschmerzen. Meines Erachtens ist Volkswagen aber nicht dem Untergang geweiht. Es wird aber einen Bedeutungswandel geben.
Die Autoindustrie galt lange als Motor des deutschen Wohlstands. Sind diese Zeiten vorbei?
Das steht zu befürchten. Künftig dürfte es weniger Arbeitsplätze in der Autoindustrie geben und auch die «Nachstrahleffekte» auf andere Industrien dürften nachlassen. Im Zusammenhang mit der Elektromobilität war dies auch ein Stück weit unvermeidlich. Schliesslich fallen Getriebe und andere Bauteile weg.
In historischer Sicht wird man die Dieselkrise als Wendepunkt begreifen. Nicht nur, weil dem Konzern dadurch zwischen 35 und 40 Milliarden Euro fehlen. Auch die Pläne des Vorstands, danach alles auf Elektromobilität auszurichten, gingen nicht auf.
Es gab Zeiten, da war VW tatsächlich ein «Volkswagen»: beliebt und sympathisch, auch im Ausland. Wie hat VW das geschafft, zumal die Idee eines «Volkswagens» ja auf Hitler und Nazi-Deutschland zurückgeht?
VW hat ein Fahrzeug gebaut, das robust und preiswert war. Es deckte das Mobilitätsbedürfnis einer Generation des Aufbaus ab. Der nächste Schritt kam im «Golf-Zeitalter»: Die Vernunftantwort der 1970er-Jahre auf die neuen Herausforderungen wie Kraftstoffverbrauch hat den Modernisierungsschub der deutschen Gesellschaft hervorgebracht.
In den 1990er-Jahren hat sich der Golf unter Ferdinand Piëch als hochqualitatives Produkt neu erfunden. Er hat damit eine zweite Lunge bekommen. Seit 2015 ist aber ein wenig die Luft raus.
Hat der VW-Konzern seinen Innovationsgeist verloren?
Den Innovationsgeist vielleicht nicht. Aber die Gabe, Autos zu produzieren, die die Menschen im In- und Ausland unbedingt wollen. Und während der Käfer und der Golf zumindest anfänglich preiswert waren, waren der Passat und andere Modelle nicht mehr für alle bezahlbar. Mit seiner Premiumorientierung hat VW seine Kundschaft in Menge verloren.
Einst war das Auto Symbol für Freiheit und Status. Heute sieht man das auch angesichts des Klimawandels kritischer. Hat es VW verpasst, sich ein zeitgemässes Image zu geben?
In diesen unübersichtlichen Zeiten würde dem Unternehmen ein Modell-Mix guttun, der unterschiedliche Gruppen anspricht. Das scheint im Moment das Problem zu sein. Gleichzeitig fehlt VW die Kraft, Einstiegsautos herzustellen. Die letzten Versuche wurden wegen mangelnder Marge wieder eingestellt.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.