Kaum eine Industrie steht so sehr für die Schweiz wie die Pharmaindustrie. Entlang der Pharma-Wertschöpfungskette wird inzwischen rund jeder zehnte Schweizer Franken gemacht. 2023 verkaufte die Schweizer Pharmaindustrie weltweit Produkte im Wert von rund 145 Milliarden US-Dollar. Sie gilt gemäss Verband Interpharma als «Motor der Schweizer Wirtschaft». Und als Vorzeigebranche in Sachen Nachhaltigkeit.
Jetzt zeigt eine Analyse der renommierten englischen Beratungsfirma Small World Consulting im Auftrag von SRF und dem Onlinemagazin Republik: Dieser «Motor» bringt der Schweiz zwar Wachstum und Profit – doch die meisten Emissionen werden ins Ausland geblasen. Während der Klima-Fussabdruck der Branche innerhalb der Schweiz sinkt, ist ihr tatsächlicher Fussabdruck weltweit fünf Mal so gross.
Gemäss Schätzung hat die Schweizer Pharmaindustrie damit im Jahr 2023 weltweit rund 27 Millionen Tonnen CO₂ und vergleichbare Treibhausgase ausgestossen. Zum Vergleich: Das entspricht zwei Drittel aller Emissionen, die von allen Menschen und Firmen innerhalb der Schweiz während eines Jahres ausgestossen werden.
Die Emissionen der Zulieferer
Der Grund dafür heisst «Scope 3». Damit ist eine Kategorie von Emissionen gemeint. Zu ihr gehören die Emissionen, die entlang der Lieferketten anfallen, die aber nicht von einem Unternehmen selbst veranlasst werden, sondern von seinen Zulieferern.
Wenn Roche seine Emissionen gemäss Nachhaltigkeitsbericht auf absolut Null herunterfahren will, dann meint es damit vor allem die Kategorien «Scope 1» und «Scope 2» – also alles, was unmittelbar am Unternehmen Roche hängt: Büros wie die Roche-Türme, Fahrzeuge, Forschungsstätten sowie deren direkter Energieverbrauch. Das meiste davon wird in der Schweiz emittiert.
Was Roche hingegen in seinen Bemühungen zu «Null Emissionen bis 2050» mehrheitlich ausklammert, sind die ganzen externen Produktionsstätten und Lieferwege, die vor allem im Ausland stattfinden. Zum Beispiel Rohstoffe und Chemikalien, Transport und Logistik, oder Firmen, die Komponenten für Medikamente herstellen und dafür Ressourcen und Energie beziehen. Vor allem jene Prozesse also, welche die Umwelt besonders belasten.
Dass die Schweizer Pharma eine globalisierte Industrie ist und Firmen und Zulieferer aus Dutzenden Ländern beschäftigt, überrascht nicht. Immerhin handelt es sich um eine hochvernetzte Branche mit zahlreichen spezialisierten Zulieferern. Dementsprechend international vernetzt ist auch der ökologische Fussabdruck. So vernetzt, dass selbst die grössten Pharmaunternehmen der Welt oft kaum eine vollständige Übersicht darüber haben, wo genau welche Emissionen anfallen.
Bublu Thakur-Weigold forscht zu Lieferketten an der ETH Zürich. Sie stellt fest: «Die enorme Anzahl an Standorten sowie die Prozesse, die in die Endprodukte einfliessen, ist schlicht überwältigend.» Die Pharmaindustrie würde zeigen, wie komplex die Lieferketten geworden seien. «Es gibt keine nationalen Industrien mehr. Alles ist made in the world».
Modellierungen wie jene der Beratungsfirma Small World Consulting helfen dabei, komplexe Lieferketten und deren Fussabdruck besser nachvollziehen zu können. So entsteht ein Bild, wo die Emissionen anfallen – und wie man sie möglicherweise reduzieren könnte.
Welche Rolle Länder wie China und Indien für die Pharmaindustrie – und generell fürs Klima – spielen, zeigt sich gut am Beispiel Ibuprofen, eines der beliebtesten Schmerzmittel der Welt. Schweizer Firmen wie Sandoz oder Mepha Pharma verkaufen es als Generikum, doch der Wirkstoff für die Tablette wird mehrheitlich in drei Ländern hergestellt: China, Indien und den USA.
Im Jahr 2000 wurden etwa zwei Drittel der generischen Wirkstoffe in Europa produziert und ein Drittel in Asien. Bis 2020 hat sich das Verhältnis nach einer Studie im Auftrag des Branchenverbands Pro Generika umgekehrt: Zwei Drittel der Wirkstoffe stammen jetzt aus Ländern wie China oder Indien.
Grund dafür sind unter anderem die Preise. Wirkstoffe aus China sind bis zu vierzig Prozent billiger, schätzt eine Expertengruppe der Europäischen Kommission, dank günstigeren Produktions- und Energiekosten. Wer in China oder Indien produzieren lässt, kann damit viel Geld sparen. Meist auf Kosten des Klimas.
Grosse Firmen haben einen grossen Hebel
Für Matt Bond, Nachhaltigkeitsberater bei Small World Consulting, stehen die multinationalen Firmen besonders in der Verantwortung: «Ein grosser Teil der weltweiten Emissionen geht auf das Konto weniger grosser multinationaler Organisationen.» Oft würde auf die Handlungen und Konsumentscheide von Einzelpersonen fokussiert.
Dabei liege vieles nicht in der Hand der Konsumenten, sagt Bond. «Ein grosser Teil der Emissionen, die der Einzelne verursacht, geht auf das Konto der Unternehmen, bei denen er einkauft und bei denen er oft keine grosse Auswahl hat. Die grossen multinationalen Unternehmen müssen also dringend handeln und ihre gesamte Lieferkette einbeziehen.»
Pharma will stärker auf Scope 3 fokussieren
Die Schweizer Pharmaindustrie will sich dieser Verantwortung annehmen. Anna Bozzi, Leiterin Umwelt und Nachhaltigkeit beim Branchenverband ScienceIndustries, sagt, man würde viel in die Sensibilisierung aller Akteure sowie in neue, innovative Prozesse zur Reduktion von Emissionen investieren. «Ein global abgestimmtes Vorgehen ist wichtig.» Grosse Pharmaunternehmen würden ihre globale Position nutzen, um nachhaltige Praktiken in der Lieferkette aktiv voranzutreiben. Gleichzeitig sei die Branche auch eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, da die Erwartungen an Qualität und Sicherheit von Pharmaprodukten sehr hoch seien.
Bis in diesem Jahr will Roche rund 18 Prozent ihrer Scope 3 Emissionen reduziert haben, etwa indem man weniger mit dem Flugzeug und mehr per Schiff transportiert, mehr Materialien rezykliert oder mehr auf erneuerbare Energie setzt.
Roche schreibt auf Anfrage: «Scope 3 wird weiterhin den grössten Anteil an unserem Fussabdruck haben.» Man sei derzeit dabei, die Nachhaltigkeitsziele zu überarbeiten und wolle neu auch bei Scope 3 «sehr deutliche Reduktionen» bis 2045 erzielen. Dafür arbeite Roche aktiv mit ihren Lieferanten zusammen, würde eigene Analysen unternehmen und neue Wege suchen, um die Lieferketten nachhaltiger zu machen. Allerdings sei es so, dass man weltweit Waren verkaufen würde – und diese nun mal dorthin transportiert werden müssten. Teilweise ist das nur über Flugzeug möglich, da gewisse Medikamente gekühlt werden müssen.
Lieferketten-Expertin Bublu Thakur-Weigold ergänzt: «Weniger Emissionen bringen nichts, wenn die Medikamente nicht bei den Patienten ankommen.» Selbst in der Schweiz komme es immer wieder zu Medikamentenmängeln. «Es kann sinnvoll sein, für bestimmte Transportwege Flugzeuge zu wählen, um die Verfügbarkeit von Medikamenten zu gewährleisten», sagt Thakur-Weigold.
Der Weg in die Nachhaltigkeit gestaltet sich für die Schweizer Pharmaindustrie als komplex. Und solange der Schatten der Pharmaindustrie über globale Lieferketten hinweg reicht, bleibt die Gefahr: Was den Menschen gesund macht, macht das Klima vielleicht krank. Eine Nebenwirkung, die in keinem Beipackzettel steht.