Von einer hohen Inflation ist die Schweiz in den vergangenen Jahren verschont geblieben – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern. So hat die Schweizerische Nationalbank ihre Zinsen auch nie in solche Höhen geschraubt wie die Zentralbanken der USA oder der EU.
Im Interview sagt der SNB-Präsident, was er für 2025 erwartet. Negativzinsen seien nicht undenkbar, auch wenn er sie selbst nicht gerne sähe.
SRF: Im vergangenen Jahr hat die SNB die Zinsen schnell gesenkt, früher als andere Länder. Es waren vier Senkungen, zuletzt um 0.5 Prozentpunkte. Weshalb war das so schnell nötig?
Martin Schlegel: Wir haben im Dezember einen Zinsschritt von 1 auf 0.5 Prozent gemacht. Wir sind also einen halben Prozentpunkt hinuntergegangen mit den Zinsen. Der Inflationsdruck hatte deutlich abgenommen. Auch die Inflation selbst hat uns immer wieder nach unten überrascht. Das hat gezeigt, dass wir einen relativ deutlichen Schritt machen müssen.
Mit welcher Inflation rechnen Sie dieses Jahr?
Dieses Jahr wird die Inflation relativ tief sein, sogar in der Nähe von null. Wenn wir auf die Monatswerte schauen, ist es sogar nicht ausgeschlossen, dass wir in einzelnen Monaten im negativen Bereich sein werden.
Aber wenn nun zum Beispiel US-Präsident Trump Zölle gegen Schweizer Exportprodukte einführt und sich die Wirtschaft extrem abschwächen sollte, dann haben Sie das Pulver schon verschossen.
In der Geldpolitik ist es sehr wichtig, vorausschauend zu sein. Was man in der Geldpolitik unternimmt, hat erst verzögert eine gewisse Wirkung. Wenn man also sieht, dass man die Geldpolitik lockern muss, sollte man nicht warten, sondern unmittelbar handeln. Sie können das mit einem Arztbesuch vergleichen. Wenn Ihnen ein Arzt ein Medikament verschreibt, ist es wahrscheinlich auch am besten, wenn Sie es unmittelbar einnehmen und nicht noch ein paar Tage oder Wochen warten.
Ein Zuschauer hat mir geschrieben: «Wie hoch schätzt Martin Schlegel die Wahrscheinlichkeit ein, dass der Leitzins im Juni bei 0 Prozent liegt?» Sie haben noch zwei Zinsentscheide, im März und im Juni. Wenn Sie jedes Mal um einen Viertelpunkt senken, wären Sie im Juni bei 0 Prozent.
Was im Juni ist, kann ich Ihnen noch nicht sagen.
Und im März?
Auch was im März ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Dann trifft sich das Direktorium wieder. Wir werden die Analyse machen, die Daten anschauen, und dann werden wir zusammen einen Entscheid finden.
Wir erfüllen unser Mandat für alle, nicht nur für einen Teil der Wirtschaft.
Es gibt den Vorwurf, dass sie mit den Zinssenkungen die Interessen der Exportwirtschaft zu stark gewichten. Die Sparer haben dann praktisch wieder null Zinsen auf ihren Konten. Zudem sinkt unsere Kaufkraft im Ausland.
Die Nationalbank schaut auf die sogenannten monetären Bedingungen: Sie bestehen auf der einen Seite aus dem Zins und auf der anderen Seite aus dem Wechselkurs. Und wir sorgen dafür, dass diese monetären Bedingungen angemessen sind und wir insgesamt unser Mandat, die Preisstabilität, erfüllen. Und zwar für alle, nicht jetzt nur für einen Teil der Wirtschaft.
Wir können Negativzinsen nicht ausschliessen.
Ein weiterer Zuschauer hat geschrieben: «Wenn wir so nahe bei null sind, könnte es wieder Negativzinsen geben. Und diese wären erneut ein fataler Fehler. Eigentlich wären längst höhere Zinsen angebracht.»
Die Nationalbank hat nicht gerne Negativzinsen. Gleichzeitig können wir Negativzinsen nicht ausschliessen. Wir hatten ja von 2015 bis 2022 eine längere Phase von Negativzinsen. Und wir haben gesehen, dass die Negativzinsen ihren Zweck erfüllt haben. Aber es ist nichts, was die Nationalbank leichtfertig machen würde. Man würde sie nur wieder einführen, wenn es wirklich notwendig wäre.
Das Gespräch führte Reto Lipp.