Die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion mögen noch unklar sein – eine Folge der Pandemie wird dagegen Leitartikel um Leitartikel, Studie um Studie immer klarer: nicht nur das Virus selbst grassiert, auch die mit ihm verbundene soziale Ungerechtigkeit verbreitet sich ungehindert.
Innerhalb von Ländern verstärkt die Pandemie Einkommensunterschiede und erschwert zum Beispiel in der Bildung die Chancengleichheit. Global betrachtet sind die Reichen seit der Pandemie reicher, die Armen ärmer geworden. Laut einer von der Nichtregierungsorganisation Oxfam publizierten Studie dauerte es nur neun Monate, bis das Vermögen der Tausend reichsten Milliardäre wieder sein Vorpandemie-Niveau erreichte. Für die ärmsten Abermillionen Menschen könnte die Erholung ihrer Einkommen dagegen ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen, schätzt Oxfam.
Diese Zahlen machen zwar betroffen und empören, sie entlasten aber auch von der eigenen Verantwortung. Wer nicht zu den zehn reichsten Milliardären der Welt gehört, fühlt sich nicht unmittelbar zum Handeln verpflichtet. Die Gewinner des Systems sind schliesslich andere. Oxfam fordert denn auch höhere Steuern für Reiche und eine bessere staatliche Absicherung für das Gros der Bevölkerung.
Knackpunkt Impfstoffverteilung
Konkreter wird es bei einer anderen Frage: der Verteilung von Impfstoff. Während sich wenige westliche Länder, darunter die Schweiz, mit bilateralen Verträgen hunderte Millionen Dosen an Impfstoff gesichert haben, dürfte ein Grossteil der Schwellenländer noch lange kaum oder nur wenig des in Industrieländern entwickelten Impfstoffs zur Verfügung haben.
Auch diese Ungerechtigkeit macht betroffen und empört. Gleichzeitig mögen die wenigsten die Vorteile dieser Ungerechtigkeit missen. Viele wünschen sich aus gutem Grund so schnell wie möglich einen Impfstoff – für die gebrechliche Grossmutter, den Bruder mit der Vorerkrankung, für sich selbst und die Wirtschaft, damit endlich alles wieder wird wie vorher. Wer auf der Gewinnerseite ist, schaut lieber nicht so gern, auf wessen Kosten er gewinnt. Das schlechte Gewissen nimmt man in Kauf, Rufe nach einer fairen Verteilung sind eher Lippenbekenntnis als ernst gemeint.
Dabei scheint noch gar nicht ausgemacht, dass sich die Strategie des Impfnationalismus für Industrienationen am Ende lohnt. Eine neue Studie der internationalen Handelskammer legt den Schluss nahe, dass die ungerechte Verteilung von Impfstoffen an Schwellenländer am Ende vor allem reiche Industrienationen viel Geld kosten wird. Grund dafür ist die schon heute mit Schwellenländern eng verzahnte Weltwirtschaft.
Am Ende schadet Ungerechtigkeit nicht nur den offensichtlichen Verlierern, sondern auch den Gewinnern. Setzt sich diese Erkenntnis durch, dann liesse sich womöglich nicht nur der Impfnationalismus bewältigen, sondern auch die immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich schliessen.