Auf dem Marktplatz in Zürich-Oerlikon haben an diesem kalten Mittwochmorgen Bauern, Gemüsehändlerinnen und Blumenverkäufer ihre Stände aufgebaut und bedienen dick vermummt ihre Kundschaft.
Alessa Perotti schlendert an den Stapeln von bunten Früchten und Gemüsen in grünen Plastikkisten entlang und schaut sich die Preisschilder an. Im vergangenen Jahr hat sie an der ETH ihr Studium in Lebensmittelwissenschaften abgeschlossen.
Etwas brennt der Zürcherin schon länger unter den Nägeln: «Ein Viertel unserer Bevölkerung ist betroffen von nicht übertragbaren Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf, Erkrankungen, Diabetes. Und eine der Hauptrisikofaktoren für diese nicht übertragbaren Krankheiten ist unsere Ernährung.» In ihrer Masterarbeit hat sie sich deshalb mit den wahren Kosten des Ernährungssystems beschäftigt und sich gefragt, wie nachhaltig dieses ist für Umwelt und Gesellschaft.
«True cost of food»: Lebensmittelpreise neu berechnet
Sie hat die Preise von acht konventionell produzierten Lebensmitteln untersucht. Ausgewählt hat sie Äpfel, Rüebli, Weizen, Kartoffeln, Milch, Käse, Poulet und Rindfleisch – alles Produkte, die in der Schweiz häufig im Einkaufskorb landen. Alessa Perotti hat 100 Faktoren eruiert, die den Preis dieser Lebensmittel beeinflussen könnten. Darunter fallen Umwelteinflüsse wie CO2-Belastung, Boden- und Wasserverbrauch, Pestizide oder Dünger. Als Faktoren gelten auch das Tierwohl oder Gesundheitskosten. So essen wir dreimal mehr Fleisch, als eigentlich gesund wäre, und das kann verschiedene Krankheiten zur Folge haben. Perotti hat aber auch soziale Komponenten wie Lohnkosten oder wirtschaftliche Faktoren wie Subventionen, Steuern oder Abgaben berücksichtigt.
Vor der Auslage eines Fleischverkäufers bleibt Alessa Perotti stehen. Die Preise für die angebotenen Stücke sind marktüblich, für die Wissenschafterin aber deutlich zu günstig: «Bei Fleisch sind die Umwelt- und Biodiversitätskosten, die mit der Produktion verbunden sind, nicht in den Preisen reflektiert. Da gehen wir davon aus, dass der wahre Preis für diese Produkte mindestens doppelt so hoch wäre.» Ein paar Schritte daneben gibt es Käse. Dieser müsste wegen des Milchanteils 50 Prozent teurer sein, sagt sie.
Bei Früchten und Gemüse zeigt sich jedoch – trotz Einsatz von Pestiziden oder Dünger, die die Umwelt belasten - ein anderes Bild. Sie müssten günstiger sein, sagt Alessa Perotti: «Die Schweizerinnen und Schweizer essen zu wenig Früchte und Gemüse. Wir könnten Gesundheitskosten einsparen, wenn wir mehr von diesen Produkten konsumieren würden», ist sie überzeugt.
Die grosse Herausforderung ist jedoch, die unzähligen Faktoren zu gewichten und ihnen ein Preisschild zu verpassen. Noch haben nicht alle Faktoren ein solches erhalten. Da ist die Forschung noch zu wenig weit, erklärt Perotti. Auch hat sie noch nicht alle positiven Nebeneffekte der Lebensmittelproduktion wie die Landschaftspflege aufsummiert. Dennoch lässt das vorläufige Resultat aufhorchen: «Für jeden Franken, den wir für Nahrungsmittel ausgeben, werden wahrscheinlich etwa 90 Rappen an externen Kosten verursacht.» Derzeit geben wir für Lebensmittel in der Schweiz pro Jahr rund 37 Milliarden Franken aus. Nach Alessa Perottis Modell wären es also 70 Milliarden und mehr.
Wer soll für die Mehrkosten aufkommen?
Wenn allerdings die Preise für Milch oder Fleisch steigen, stellt sich die Frage, wer für die Mehrkosten aufkommt. Zahlen allein die Konsumierenden, dann belastet das die Familienbudgets massiv und könnte eine Zwei-Klassen-Gesellschaft schaffen – wenn sich etwa nicht mehr alle Fleisch leisten können.
Für jeden Franken, den wir für Nahrungsmittel ausgeben, werden wahrscheinlich etwa 90 Rappen an externen Kosten verursacht.
Andererseits dürften nicht nur die Bauern zur Kasse gebeten werden, wenn Äpfel oder Karotten günstiger werden. Ein fairer Lohn sei wichtiger Bestandteil der neuen Preise für Lebensmittel, sagt Perotti. So sei es Sache der Politik zu entscheiden, wer für welche Mehrkosten aufkommen soll. Mit bewusstem Einkaufen und weniger Foodwaste könnten aber alle die Preise für Lebensmittel direkt beeinflussen.
Die Lösungssuche läuft weltweit
Mit ihren Berechnungen ist Alessa Perotti nicht allein. Weltweit sind Forschungsteams daran, Modelle zu entwickeln, um die Nahrungsmittelproduktion nachhaltiger zu machen. Denn die Folgen der Übernutzung von Böden und Meeren zeigt sich deutlich, gerade auch in Regionen, wo die klimatischen Bedingungen eine intensive Nutzung weniger gut tolerieren.
Auch soll im Herbst an einem UNO-Gipfel diese Problematik diskutiert werden. Alessa Perotti hofft, dass da weltweit geltende Kostenfaktoren definiert werden: «Massnahmen, die in der Schweiz funktionieren, werden in anderen Weltregionen zwar kaum so umgesetzt. Ein Gerüst, das definiert, was wir anschauen, ist aber global anwendbar.»
Gesucht ist also ein weltweiter Konsens, was bei der Produktion von Nahrungsmitteln berücksichtigt werden muss, und je nach Region oder Land werden diese Faktoren dann stärker gewichtet und sollen den Preis im Ladenregal beeinflussen.
Städte bieten Chancen
Ein weiteres, wichtiges Element auf dem Weg zu einer neuen Lebensmittelproduktion dürften auch vertikale Produktionsanlagen sein: eine Produktion von Früchten und Gemüse mitten in Städten in ehemaligen Fabrikhallen. Der Verbrauch von Wasser und Zusätzen ist gering, die Transportwege sind kurz.
Für Alessa Perotti ist klar: Eine goldene Lösung gibt es nicht, es braucht verschiedene Modelle, um weltweit nachhaltig Lebensmittel zu produzieren. Ein entscheidender Faktor dabei bleibt aber der Preis. Er dürfte mitentscheiden, dass wir schon beim nächsten Einkauf – mit Blick auf das Portemonnaie – auf nachhaltigere Lebensmittel setzen.