Die Spätantike war eine Zeit des Umbruchs. Sie markierte das Ende des Römischen Reichs – und war von Krisen geschüttelt: «Grenzen fielen zusammen, es gab religiöse Konflikte, zahlreiche Krankheiten brachen aus, unter anderem die Pest», erklärt Cristina Murer, die seit April 2024 klassische Archäologie in Tübingen lehrt.
Auch Rohstoffe werden in der Spätantike knapp. Die Handelswege für Marmor etwa brechen zusammen; Marmor, der einst den römischen Kaisern in scheinbar unbegrenzten Mengen nach Rom geliefert worden ist. Die Menschen greifen auf das zurück, was sie vor Ort haben. «Im Römischen Reich beginnt man ab dem 3. Jahrhundert systematisch, Materialien älterer Bauten wiederzuverwenden, um damit Kosten zu sparen.»
Ein prominentes Beispiel ist der Konstantinsbogen, ein Triumphbogen, der zu Ehren des Kaisers Konstantin im Jahr 315 n. Chr. geweiht wurde: Etliche Teile der Verzierungen sowie die Säulen stammen aus älteren Denkmälern. «Marmor-Recycling war in der Spätantike gang und gäbe», sagt Cristina Murer.
Auch Grabbauten wurden geplündert. Doch lange ging die Forschung davon aus, dass dahinter nicht wirtschaftliche, sondern ideologische, sprich: antiheidnische Motive standen. «Es gab viele literarische Überlieferungen, dass die Christen im Zuge anti-paganer Massnahmen diese tempelartigen, mit Marmor ausgekleideten Grabbauten der Römer mutwillig zerstört hätten.»
Keine «antiheidnischen» Grabplünderungen
Cristina Murer konnte in ihrer Forschung zeigen, dass es sich anders verhält: Diese Grabbauten wurden nicht mutwillig zerstört, sondern gezielt und pragmatisch abgeräumt: für spätantike Stadtmauern etwa, oder für Bodenbeläge neuer Kirchen, bei denen die Grabinschriften ideal verwendet werden konnten. Des Weiteren nutzte man Grabstatuen und -altäre auch für neue Wohnungen, als Ornamente für die Innenausstattung dieser Bauten.
Punktuell habe die Forschung diese Wiederverwendung von Grabmaterialien schon früher entdeckt, sagt Cristina Murer, aber: «Der grosse Umfang, in dem das praktiziert wurde, war eine neue Erkenntnis.» Die Schweizer Archäologin hat in ihrem Forschungsprojekt zahllose Befunde zusammengetragen, die diese Erkenntnis belegen.
Sie habe sich dabei hauptsächlich auf Italien konzentriert. Befunde für dieses Recycling gebe es aber im ganzen römischen Imperium.
Wie Mussolinis Archäologen pfuschten
Neben den archäologischen Zeugnissen studierte Murer auch schriftliche Quellen aus dieser Zeit – Gesetzestexte etwa, die sogenannten kaiserlichen Edikte. Ausserdem kämpfte sie sich durch die Ausgrabungstagebücher der römischen Hafenstadt Ostia Antica aus den 1940er Jahren.
Damals, unter Mussolini, wollten die Archäologen für die Weltausstellung 1942 in Italien möglichst schnell an das prächtige Material aus der Kaiserzeit herankommen. Die darüberliegenden spätantiken Schichten jedoch hätten sie einfach weggeworfen. «Damals hatte die Forschung keinen Zugang zu diesen spätantiken Schichten, man nannte sie ‹Verunklärung des archäologischen Befundes›.»
Als Archäologin müsse sie nicht immer im Boden graben, um Neues zu entdecken, so Cristina Murer. Bei Ausgrabungen im Archiv könne das ebenfalls gelingen.