Der Satz fällt fast beiläufig. Während Ramona in der Küche den Gurt der Babytrage um ihre Hüfte legt und festzurrt, sagt sie: «Tim weinte einmal so fest, dass er ohnmächtig wurde.» Die beiden sassen damals im Auto auf dem Weg zum Osteopathen. Erbrochen hatte der Kleine schon öfter wegen des Schreiens, manchmal lief er auch blau an. Aber ohnmächtig … das machte ihr unheimlich Angst.
Wenn er einmal zu schreien begonnen hatte, war er kaum zu beruhigen.
Tim ist ein sogenanntes Schreibaby. Manchmal weinte er vier, fünf Stunden am Stück, erzählt die 28-jährige Mutter. Ohne Pause. Der Körper unter Starkstrom, das Gesicht hochrot. Er atmete kaum. «Wenn er einmal zu schreien begonnen hatte, war er kaum zu beruhigen.» Dann konnte Ramona nur noch abwarten und dafür sorgen, dass er sich nicht verletzt.
Wann ist ein Baby ein Schreibaby?
Ein Baby gilt dann als Schreikind, wenn es mindestens drei Stunden am Tag, drei Tage pro Woche über drei Wochen schreit. Diese Definition findet sich oft im Internet, sie sei aber mittlerweile überholt, sagt Susanna Fischer. Die Leiterin der Familienpraxis Stadelhofen berät Eltern, deren Kinder Mühe haben, sich zu beruhigen. Sie sagt: «Es gehe nicht darum, wie viele Stunden ein Kind schreit, sondern wie hoch der Leidensdruck für die Eltern ist».
Je nach Definition variieren die Zahlen stark: Zwischen 10 und 25 Prozent aller Neugeborenen sind Schreibabys. Die Familientherapeutin Susanna Fischer geht in der Schweiz von etwa 10 bis 15 Prozent aus, fügt aber an, dass es wohl eine immense Grauzone gebe: «Viele Frauen denken, ‹Ich war sehr belastbar im Job. Es kann doch nicht sein, dass ich das mit dem Kind nicht im Griff habe.›» Also beisse man auf die Zähne und halte es aus.
Die Nächte sind am schlimmsten
Mittlerweile steht Ramona mit Tim im Stall bei den 18 Kühen. Fast etwas beschämt schaut sie auf den mit Heu bedeckten Boden und murmelt: «Ich bin eigentlich hart im Nehmen, aber die letzten Monate waren ein Kampf, ein Überlebenskampf.» Doch sie biss auf die Zähne, auch wenn sie ihn manchmal am liebsten «auf den Mond geschossen» hätte.
Stundenlang hat sie ihren Sohn rumgetragen. «Über den ganzen Tag gesehen waren es manchmal 15 Stunden.» Die Abende und Nächte waren besonders schlimm. Eingeschlafen ist er nur in Bewegung oder an der Brust beim Trinken. Doch länger als eine Stunde am Stück hat er nicht geschlafen.
Ein halbes Jahr lang konnte ich fast nichts machen. Nicht einmal zum Kochen hatte ich Zeit.
Ramonas Partner arbeitet Vollzeit, gerade ist er auf Klauenpflege bei den Kühen in der Umgebung. Abends hat er seine Partnerin dort entlastet, wo er konnte. Auch für ihn eine Tortur, auch er blieb über weite Strecken schlaflos und musste am nächsten Tag wieder im Job funktionieren.
Tagsüber war Ramona oft allein. «Ein halbes Jahr lang konnte ich fast nichts machen. Nicht einmal zum Kochen hatte ich Zeit. Tim wollte immer meine Nähe.» Ramonas Mutter, die im Nachbardorf wohnt, bot immer wieder an, Tim für ein paar Stunden zu übernehmen. So konnte die Tochter mal eine Pause machen. Aber Ramona büsste dafür: «Wenn er auch nur eine Stunde weg von mir war, war es danach noch viel schlimmer.»
Nichts hat geholfen
Lange dachte Ramona, es seien die Bauchkrämpfe, die viele Neugeborene in den ersten drei Monaten plagen. Sie war beim Kinderarzt und auch im Kinderspital in Bern. Aber die Ärzte fanden keinen körperlichen Grund, warum Tim so viel schrie. Geholfen hat nichts, – weder Homöopathie, Osteopathie noch Cranio-Sacral-Therapie.
Etwas Erleichterung brachte Ramona das Buch «The Fussy Baby Book» vom US-amerikanischen Kinderarzt William Sears und seiner Frau Martha Sears, Krankenschwester und Stillberaterin. Die beiden sind selbst Eltern von einem, wie sie es bezeichnen «High Need Baby». Im Gegensatz zum umgangssprachlichen Ausdruck Schreibaby lenkt der Begriff den Fokus weg vom Symptom, hin zur Ursache.
In ihrem Buch listet das Ehepaar zwölf Merkmale auf, die bei High-Need-Babys besonders ausgeprägt sind. Darunter: intensiv, hyperaktiv, verlangt häufig nach Mahlzeiten, erwacht viel, unvorhersehbar, hochempfindsam, lässt sich nicht ablegen, kann sich nicht selbst beruhigen oder reagiert in Trennungssituationen sehr sensibel.
Seit Ramona auf diese zwölf Merkmale gestossen ist – in jedem erkennt sie Tim – kann sie besser mit der Situation umgehen: «Ich weiss jetzt, dass er nicht krank ist, sondern dass er einfach mehr Aufmerksamkeit braucht als andere Kinder».
«Niemand hat mich verstanden»
Ramona, die eigentlich keine Frau der vielen Worte ist und schon gar nicht der emotionalen, wie sie selbst sagt, öffnet ihr Herz einen Spalt: «Das Schwierigste war, dass mich niemand verstanden hat. Mein Partner nicht, mein Vater nicht. Sie haben gesagt: Du musst ihn schreien lassen, du verwöhnst ihn.» Einzig die Mutter hörte ihr zu, aber Ramona hätte gerne mit Frauen gesprochen, denen es ähnlich erging.
Fündig geworden ist sie über ein halbes Jahr nach der Geburt im WhatsApp-Chat des Vereins «Schreibabyhilfe». Dort fühlte sie sich das erste Mal richtig verstanden und merkte: Ich bin nicht allein. Einige Frauen aus diesem Chat sind bereit, ihre Erlebnisse ebenfalls zu teilen, weil sie mit Vorurteilen aufräumen wollen und hoffen, dass das Unverständnis, das ihnen immer wieder entgegenschlägt, abnimmt.
Anja: «Ich habe das Gefühl, man darf nur sagen, dass das erste Jahr mit einem Kind toll ist, anstrengend klar, aber so eine schöne Zeit. Und sie werden zu schnell gross. Ich aber habe mir immer gedacht: Bitte wachse, werde schnell gross. Ich kann nicht mehr.»
Cleo: «Die Nachbarn hören, dass das Kind über Stunden schreit. Was die wohl denken? Dass wir es nicht im Griff haben oder sonst was mit ihm machen. Es ist eine gewisse Scham im Spiel. Das hindert einem auch daran, etwas trinken zu gehen oder sonst etwas zu unternehmen. Weil man das Kind manchmal einfach nicht beruhigen kann.»
Sarah: «Ärzte nehmen dich nicht ernst. Da gehst du hin und sagst, es ist das erste Kind und dann bist du die Helikopter-Mama. Niemand da sagt, die Frau hat wirklich ein gravierendes Problem, weil ihr Kind bis zu zehn Stunden am Tag schreit oder weil die Knie kaputt sind, da sie ständig nur wippen muss mit acht Kilo auf dem Arm.»
Ladina: «Das Umfeld hat null Verständnis. Es heisst: ‹Leg sie doch mal hin› oder ‹du ruinierst dir deine Gelenke, wenn du so fest wippst›, ‹beruhige dich, lass dich massieren.› Immer ist die Mutter schuld, weil sie so gestresst ist. Die meisten Eltern denken, sie haben das ja auch geschafft und bringen null Verständnis auf. Das hat mich völlig fertig gemacht.»
Dabei würde wenig helfen, sind sich die Frauen einig: Essen vorkochen, putzen, ein offenes Ohr, einkaufen, vorbeikommen, dass man nicht vereinsamt. Und vor allem: nicht verurteilen.
Niemand ist schuld
Doch warum schreien gewisse Babys pausenlos und lassen sich kaum beruhigen? Ist es wegen des Stresses in der Schwangerschaft? Der geplante Kaiserschnitt? Ist es die überforderte, unentspannte Mutter? Die Frage nach der Schuld ist omnipräsent – im Umfeld wie auch bei den Eltern selbst.
«Die Eltern machen nichts falsch. Im Gegenteil, sie machen alles, was sie können», sagt die Familientherapeutin Susanna Fischer. Manchmal könne die Ursache körperlicher Natur sein: Reflux, starke Verspannungen, Koliken.
Viel häufiger aber sei der Grund, warum einige Babys so viel schreien, die Umstellung nach der Geburt: Monatelang in der Dunkelheit, gedämpfte Geräusche. Eingelullt, Halt von allen Seiten. Und dann plötzlich hell, laut, hektisch. «Diese Umstellung ist für alle Neugeborenen gross. Das eine Kind aber reagiert sensibler und verliert schneller seine innere Sicherheit als ein anderes.»
«Ich konnte das Kind nicht gernhaben»
Cleo: «Irgendwann hatte ich keine Freude mehr empfunden, das Gute nicht mehr gesehen. Ich war sehr müde, antriebslos, habe viel geweint. Ich war sehr, sehr traurig.»
Karin: «Am Anfang konnte ich mein Kind nicht wirklich gernhaben, weil es so oft geschrien hat. Eine Psychologin hat mir dann gesagt, dass man Gefühle nur in der Ruhe entwickeln kann. Das hat mich etwas beruhigt.»
Hilfe für Betroffene
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- Entlastungsdienste Entlastungsdienste
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Anja: «Ich habe mir immer gedacht, wer schüttelt denn bitte schön sein Kind? Aber wenn man selbst in der Situation ist, muss man sich sehr zusammenreissen. Denn das Schreien legt einen Schalter um im Kopf, da muss man echt aufpassen, dass nichts passiert. Wenn mein Mann nicht da war, musste ich mir Notfallnummern von Freunden bereitlegen, die schnell da sein konnten.»
Was tun?
Wenn ein Baby mittendrin ist in der Schreiphase, dann können Mutter oder Vater die Situation nur noch aushalten, sagt Susanna Fischer. «Tief einatmen, länger ausatmen und warten, dass es vorbeigeht.»
Prävention könne helfen: Dem Kind schrittweise einen Schlaf-/Trink-Rhythmus geben. Und Sicherheit über den Körper vermitteln: «Dem Kind mit dem Stillkissen ein Nestchen bauen, Halt geben von allen Seiten, in eine runde Körperposition rücken. Arme und Beine an den Körper legen, mit den eigenen Händen etwas Gewicht geben.»
Familientherapeutin Susanna Fischer sagt, sie therapiere keine Kinder, sondern berate Eltern, damit sie die Situation besser ertragen. Deshalb ist für sie die Frage, was Eltern für sich tun können, denn auch so zentral. «Pausen machen vom Baby. Auch wenn die Kinder mehr schreien, wenn sie zurückkommen. Mutter oder Vater sollten immer wissen, wann die nächste Pause ist. Das ist das Licht am Ende des Tunnels, das es braucht.»
Wie hält man das aus?
Vier Stunden Geschrei. Ohne Pause. 15 Stunden rumtragen. Kaum Schlaf und kaum soziale Kontakte. Wie hält man das aus? Cleo findet, der Austausch im Schreibaby-Chat sei zentral: «Dampf ablassen, wenn man hässig oder traurig ist. Und Mut zugesprochen bekommen.» Anja fühlte sich bei einer Psychologin gut aufgehoben «Sie hat uns darin bestärkt, dass wir nichts falsch machen und uns aufgezeigt, warum wir alles richtig machen.»
Man schafft es einfach, weil man es muss und keine andere Wahl hat.
«Mir hat geholfen, zu wissen, dass es vorbeigeht», ergänzt Cleo. «Nur wann, das war die grosse Frage. Bei einigen sind es drei Monate, bei andern ein Jahr oder mehr.» Anja hingegen antwortet pragmatisch: «Die einzige Antwort ist: Man schafft es einfach, weil man es muss und keine andere Wahl hat.»
Vor ein paar Wochen, als Tim sechs Monate alt wurde, kam etwas Erleichterung ins Leben von Ramona und ihrem Partner. Tim ist mittlerweile gross genug, um ihn auf den Rücken zu schnallen: «Nun kann ich mich auch wieder um die Kühe kümmern.» Zwar braucht der Kleine noch immer sehr viel Bewegung, um ruhig zu bleiben, noch immer kann er nicht allein einschlafen. «Aber immerhin schläft er jetzt auch schon mal drei, vier Stunden am Stück.»