Gymnasium oder Berufslehre? Schon mit zwölf werden Schülerinnen und Schüler erstmals vor diese Wahl gestellt. Häufig sind es die Eltern, die die Weichen stellen – zugunsten des Gymnasiums, denn: Die gymnasiale Matura mit anschliessendem Studium gilt nach wie vor als Königsweg für späteren Erfolg. Viele Bildungspolitikerinnen und -politiker schmerzt dieses Klischee. Im Gegenzug monieren sie, das Gymnasium nehme der Berufsbildung die leistungsstarken Lernenden weg – und befeuere so indirekt den Fachkräftemangel.
Stimmt dieser Vorwurf? «Nein», sagt Regula Leemann, Bildungssoziologin an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. «Der Fachkräftemangel ist demografisch begründet: Wir haben einen Geburtenmangel und müssen uns daher auf immigrierte Fachkräfte abstützen.»
Vor allem aber habe die Gesellschaft ein «Qualifizierungsdefizit»: Zehn Prozent der Jugendlichen machen keine Berufslehre. «Diese Jugendlichen fehlen dann in den klassischen Berufsabschlüssen – im Gewerbe, in der Gastronomie oder im Gesundheitswesen.»
Durchlässigeres System soll gegen Fachkräftemangel helfen
Wo also strukturell ansetzen, um die Situation zu verbessern? Die Bildungsforschung zeige mehrere Möglichkeiten auf, sagt Leemann. Erstens: Der Unterricht müsse sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern zusätzliche Unterstützung bieten, um aufholen zu können.
Zweitens, findet Leemann, «sollte die Schule auf die frühe Selektion in unterschiedliche Leistungsniveaus in der Sek-I verzichten». Also keine Unterteilung in Sek-A-, Sek-B- und Sek-P-Stufen mehr. Und – drittens – plädiert die PH-Professorin für eine noch höhere Durchlässigkeit nach der obligatorischen Schulzeit: Allen Schülerinnen und Schülern sollen alle Bildungswege offenstehen, ohne Numerus clausus oder andere Hürden.
Eine schöne Idee – die aber die Berufsbildung nicht unbedingt stärkt. So sieht es Margrit Stamm, Professorin der Universität Freiburg. Die Durchlässigkeit suggeriere nämlich, dass beruflicher Erfolg letztlich doch über die Hochschule führe. Nach dem Motto: «Mach zuerst eine Lehre – studieren kannst du später immer noch.»
In der Berufslehre den «Chnopf» auftun
Margrit Stamm hat das Niveau und den Stellenwert der Schweizer Berufsbildung in mehreren Studien untersucht – und kommt zu anderen Schlüssen. Ihre Forschungsarbeiten hätten gezeigt, «dass die Berufslehre für viele Jugendliche zu einer zweiten Chance wird; dass sie aufblühen, wenn es nicht nur um Wissenserwerb geht, sondern auch um Praxis».
Etwas tun, das Anerkennung findet und wichtig ist: Viele Jugendliche würden dabei den sprichwörtlichen «Chnopf» auftun, sagt Stamm.
Am eindrücklichsten habe sie dies in ihren Untersuchungen zu den Swiss Skills, den Schweizer Berufsmeisterschaften erlebt: «Wir haben eine Studie durchgeführt, die zeigt, wie erfolgreich die Teilnehmenden sind, und wie sie nachher aufsteigen können, und ganz bemerkenswerte Karrieren machen.»
Erfolg im Arbeitsleben führt also nicht zwingend übers Gymnasium, wie viele Eltern meinen. Auch mit mässigen Schulnoten, jedoch praktischer Intelligenz, kann man es weit bringen.
Viele der Erfolgreichsten hätten eine mässige bis schwache Schullaufbahn hinter sich gehabt. «In den Interviews sagten sie, dass erst die Berufsbildung sie dazu gebracht habe, sich anzustrengen.»