Streaming war erst der Anfang. Netflix zielt nun darauf ab, sein Publikum von der Couch direkt in seine Serienwelten zu holen – an exklusive Events oder sogar in eigene Themenparks.
Beispiel «Bridgerton»: Das gehypte Kostüm-Drama soll nicht nur als Serie, sondern auch als Marke Geld abwerfen. Beim letzten Staffelstart lud Netflix darum zum Influencer-Event ein. Dresscode: Puffärmel, Rüschen, Korsetts.
Auch Bridgerton-Merchandise gibt’s zuhauf: Kosmetik, Schmuck, Schreibwaren, Mode. Dank der Kooperation mit verschiedenen Partnern fliessen Netflix dabei Lizenzgebühren zu. Wie viel? Darüber schweigt das Unternehmen.
Interaktive Netflix-Erfahrung
Nächstes Beispiel ist «Stranger Things»: Die Science-Fiction-Serie, die alle für eine niedliche Geschichte über ein paar Kinder hielten, ist mittlerweile eine der erfolgreichsten Marken von Netflix. Neben Merch setzte der Streamingdienst auf Erlebnismarketing, indem es interaktive Events organisierte.
Die sogenannte «Stranger Things Experience» tourte durch Grossstädte mit nachgebautem Set-Design, Spielen und Rätseln, die man darin lösen konnte. Das Resultat: eine starke, kaufkräftige Fangemeinde.
Läuft also bei Netflix. Oder? «Das Problem ist, dass Netflix kein Geld macht», sagt Lothar Mikos. Er ist Professor für Fernsehwissenschaft an der deutschen Filmuniversität Babelsberg und staunt darüber, dass die «Finanztech-Blase Netflix» noch nicht geplatzt ist. «Die Abo-Gebühren reichen nicht aus, um die Inhalte zu finanzieren. Daher sucht Netflix ständig nach neuen Geschäftsbereichen und Einnahmequellen.»
«Netflix Houses» à la Disneyland
Das erklärt auch Netflix’ Expansion in Themenparks. In Texas und Pennsylvania sollen nächstes Jahr sogenannte «Netflix Houses» eröffnen, dauerhafte Veranstaltungsorte, die Fans unterhalten sollen. Hier können die Leute kaufen, essen und Spiele erleben, die auf Netflix-Hits basieren.
Ab auf die «Stranger Things»-Geisterbahn, danach ein «Bridgerton»-inspiriertes Dessert, schliesslich zur «Squid Games»-Parcours-Schlacht. Was nach einer Disneyland-Kopie klingt, nennt Netflix «experimentelle Unterhaltung».
Netflix hat geschickt verstanden, wie sie im Gespräch bleiben. Dafür geben sie zwei Milliarden Dollar jährlich für Marketing aus.
Laut dem aktuellen Geschäftsbericht hat Netflix rund 27 Milliarden Dollar Schulden. Kein Geheimnis also, dass der Streamingdienst eine Schuldenstrategie fährt. «Die Inhalte finanziert Netflix aber nicht über die Abonnements, sondern über Anleihen am Kapitalmarkt», sagt Mikos. «Das Entscheidende ist, dass Netflix 14.7 Milliarden Dollar bis 2029 an die Investoren zurückzahlen muss.»
Weg mit Prinzipien, her mit Marktpräsenz
Um trotz der hohen Schulden als verlässlicher Partner wahrgenommen zu werden, investiert Netflix stark in seine Marktpräsenz. «Netflix hat geschickt verstanden, wie sie im Gespräch bleiben. Dafür geben sie zwei Milliarden Dollar jährlich nur für Marketing aus», sagt Mikos.
Der Plan, Branchenführer zu bleiben und profitabel zu werden, soll auch dann noch funktionieren, wenn Netflix seine ursprünglichen Prinzipien aufgibt. «Das Alleinstellungsmerkmal – werbefreies Bingewatch-Angebot – hat Netflix teilweise aufgegeben, weil es kein Geld brachte», so Mikos.
«Stattdessen kopiert der Streamingdienst traditionelle Medien»: So wurde in Frankreich ein linearer Netflix-Kanal getestet. Die Abo-Kosten werden laufend erhöht, oder es wird, etwa in Deutschland oder den USA, Werbung geschaltet, wenn man das billigste Abo wählt.
Werbung und Staffelsplitting
Netflix und Werbepausen? Das zeigt, wie sehr der Streamingdienst dem ähnlicher wird, was er ablösen wollte: dem klassischen Fernsehen. Dafür gibt es weitere Indizien, etwa der Fokus auf Live-Inhalte. Fünf Milliarden US-Dollar hat Netflix kürzlich bezahlt, um ab 2025 wöchentlich Wrestling ausstrahlen zu dürfen. Weitere Echtzeitinhalte wie Spiele der National Football League und Boxkämpfe wurden ebenfalls angekündigt.
Ich würde Netflix nicht als Medienunternehmen bezeichnen, sondern als Silicon-Valley-Tech-Unternehmen.
Weiteres Indiz: Staffelsplitting. «Früher hatten Filme und Serien einen Lebenszyklus von etwa sieben Jahren», erklärt Mikos. So lange wurde in traditionellen Medienunternehmen aus den Inhalten Geld gemacht, indem etwa gestaffelt – wöchentlich eine Episode – ausgestrahlt wurde oder Lizenzen an andere Anbieter weiterverkauft wurden. «Weil Netflix die ganze Staffel online stellt, ist der Hype nach kurzer Zeit vorbei, und neue Inhalte müssen her», sagt Mikos. Das ist teuer.
Auch Netflix muss wohl sparen: Die vierte «Stranger Things»-Staffel wurde in zwei Teile gesplittet – ein alter Pay-TV-Trick, um Serien über längere Zeiträume aktuell und im Gespräch zu halten, und um zahlende Kunden somit länger zu binden.
Netflix steht also vor altbekannten Herausforderungen der Medienindustrie. Dennoch meint Mikos: «Ich würde Netflix nicht als Medienunternehmen bezeichnen, sondern als Silicon-Valley-Tech-Unternehmen.» Damit verweist der Experte auf den starken Fokus auf Datenanalyse, Algorithmen und ständigen Innovationsdruck, die Netflix eher wie ein Technologieunternehmen agieren lassen als wie einen traditionellen Medienkonzern.
Massgeschneiderte Serien
Der technologische Fokus ermöglicht es Netflix, das Verhalten der Zuschauerinnen und Zuschauer zu analysieren und «massgeschneiderte» Inhalte zu produzieren. Dies vor dem Hintergrund eines Quotendrucks, der natürlich auch bei Netflix herrscht: Filme und Serien, die nicht performen, werden eingestellt, die nächste Serie muss her.
Bei allen Herausforderungen: Netflix wächst. Neun Millionen neue Abonnentinnen und Abonnenten sind im ersten Quartal dazu gekommen, noch einmal so viele im zweiten – trotz höheren Abo-Preisen und eingeschränktem Account-Sharing. Dies zeigt den anhaltenden Erfolg des Dienstes.
Netflix fehlen Ikonen wie Micky Maus
Doch der Preis für diese Expansion ist hoch. Neben dem Schuldenberg sieht sich Netflix einer zunehmend fragmentierten Medienlandschaft gegenüber. Mikos: «Heute gibt es viele Kanäle, viele Plattformen und noch viel mehr verschiedene Inhalte. Es gibt nur noch sehr wenig Gemeinsames.»
In einer solchen Umgebung sei es (nicht nur, aber auch) für Netflix fast unmöglich, Marken wie Micky Maus oder Schneewittchen zu etablieren. Netflix fehle es an solchen kulturellen Ikonen, die generationsübergreifend bekannt und geliebt sind.
Was bleibt dabei für das Publikum? Werbepausen, Staffelsplitting und steigende Abo-Preise. Das markiert einen Kurswechsel. Die Vision eines dominanten Streamingdienstes ist dem pragmatischen Plan gewichen, Profit zu erzielen. Offen ist, wie sich das Publikum in dieser neuen Streaming-Welt verhalten wird.