Schimmelkäse, verdorbenes Fleisch, Terroristenköpfe: Wenn Madame Tricot zur Nadel greift, entstehen Wahnsinnskreationen. Die Strickkünstlerin hat uns verraten, warum stricken mehr als ein Hobby ist – und durch Krisenzeiten helfen kann.
SRF: Sie sagen: «Le tricot c’est Zen!», Stricken ist Zen. Jetzt ist definitiv eine Zeit, um Zen zu sein. Was strickt eine Madame Tricot während Krisenzeiten?
Madame Tricot: Ich habe mehr Zeit, stricke aber weniger. Ich musste die Corona-Krise wohl erst verdauen. Ich habe aber Käse gestrickt für eine Ausstellung im Vögele Museum in Rapperswil, die auf November verschoben wurde. Auf den Käse musste dann noch Schimmel, weil die ja bis dann gealtert sind.
Die dummen Gedanken liess ich vorbeiziehen – wie Wolken am Himmel.
Warum greifen Sie zur Nadel?
Ich brauche beide Hände und bewege sie immer gleich: links, rechts, links, rechts – immer alternativ. So werden beide Hirnhälften aktiviert und integriert.
Das Problem heute: Oft wird nur eine Gehirnhälfte belastet. Belastet man beide, ist man im Gleichgewicht. Das passiert beim Stricken, was beruhigt.
Ist Stricken nur Beruhigung – oder steckt mehr dahinter?
Ich sitze nicht vor dem Fernseher und mache nichts. Ich sitze vor dem Fernseher und mache etwas. Wenn die Hände beschäftigt sind, komme ich nicht auf blöde oder böse Gedanken. Ich kann mich konzentrieren.
Ich bin Ärztin und habe auch eine Ausbildung in Psychotraumatologie: Im Kurs schlief ich früher immer ein, bis ich anfing, zu stricken. Am Ende haben acht Kommilitonen gestrickt. Weil ich meine Hände beschäftigte, konnte ich mich auf den Stoff konzentrieren. Die dummen Gedanken liess ich vorbeiziehen – wie Wolken am Himmel.
Wenn ich stricke, fühle ich mich auch wie ein 3D-Drucker. Ich mache Schicht um Schicht, bin konzentriert. Das stimmt mich positiv.
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Yoga, Kochen, Chinesisch lernen: Der Mensch sucht in Krisenzeiten neue Hobbys. Warum soll er stricken und nicht Kuchen backen?
Warum nicht stricken? Das ist die Frage. Manche stricken lieber, der andere näht lieber, der andere rennt lieber. Das ist Geschmackssache.
Die Krise ist eine Chance, um sich zu fragen: Was kann ich machen als Teil der Welt, das mir guttut und der Welt nicht schadet? Das ist die grosse Frage, die man sich stellen muss. Sonst ist die Krise für die Katz!
Ich nutze übrigens meist Wolle aus dem Brockenhaus. Wenn ich stricke, schade ich der Umwelt nicht – ich schade niemandem.
Für viele ist es wichtig, im Leben einen roten Faden zu haben. Besonders in schwierigen Zeiten. Braucht der Mensch einen?
Wir sind nicht alle gleich. Es gibt Menschen, die strukturiert sind, manchmal fast rigide. Es gibt Menschen, die flexibel sind oder gar chaotisch. Ich gehöre eher zu diesen.
Ich brauche keinen roten Faden, keinen Sinn im Leben. Denn ich kann in jedem Moment einen Sinn finden. Ich kann auf dem Sofa liegen – sinnlos. Es ist wichtig, im Jetzt zu Leben. Den roten Faden brauche ich nur zum Stricken.
Menschen sind da ein wenig wie Käse. Die haben unterschiedliche Strukturen. Weichkäse hat eine andere Struktur als Hartkäse. Jeder Mensch hat, braucht eine andere Struktur.
Was würde eine Madame Tricot nie stricken – selbst in Krisenzeiten?
Socken!
Viele Frauen finden mich blöd, weil ich Sinnloses stricke, in ihren Augen Wolle verschwende. Sie finden: Man muss etwas Nützliches stricken. Wie früher, als Frauen Socken für ihre Männer strickten, weil sie hart arbeiten mussten.
Für mich steht das Socken-Stricken noch immer für die Unterdrückung der Frauen.
Das Gespräch führte Danja Nüesch.