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Ich wohne, also bin ich? Warum wir so versessen sind auf unsere vier Wände

Wohnen wird immer wichtiger. Unter anderem, weil wir der Welt mit unserem Zuhause zeigen, wer wir gerne wären. Auch für unsere Autorin ist Wohnen wichtig – und immer wieder Grund für Neid.

Es waren einmal Prachtfenster mit antiken Holzrahmen. Die haben aber leider nur die Vormieter gesehen. Heute sind es Plastikrahmen, die mir die wunderbare Aussicht verderben – und das in einem wirklich schönen Altbau. 

Luxusprobleme? Keine Frage. Aber beim Thema Wohnen habe ich eine klare Vorstellung davon, was ich Horror finde. PVC-Fenster eben. Und Katzenbäume, die gefühlt in jeder zweiten Wohnung stehen. Denn selbst wenn ich ein besonders süsses Büsi hätte, käme mir sowas nicht ins Haus.

Ein Schlafzimmer mit einem Stuhl und einem Bett. Alles ist in weiss gehalten.
Legende: Schlicht, schön – mit perfekten Fenstern: So etwas wäre in den Augen der Autorin ein Traum. Imago / Archaid Images

Und natürlich wüsste ich auch, was ich mir wünschte: das sanft renovierte Bauernhaus, das frisch aufgemöbelte Loft. Nur: So wohnen kann ich höchstens in meinen Träumen. Für mich ein Grund für Neid.

Ich wohne, also bin ich?

«Wohnst du noch – oder lebst du schon?», fragt das Mega-Möbelhaus – und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Wohnen wird in Lebenswelten, wo Menschen ein Dach über dem Kopf haben, zur immer grösseren Identitätsfrage. «Ich wohne, also bin ich» zum bequemen Leitsatz. 

Meine Wohnung, obwohl ich ja so gerne jammere, ist eigentlich ganz schön. Wenig Möbel, viele aus der Brockenstube, ein paar davon Design. Mehr lässt leider das Budget nicht zu. Käme Marie Kondo zu Besuch, würde sie keinen Schrecken kriegen. Es stapelt sich kein Müll. Nur die Spielsachen meiner Kinder – aber die sind meist in Kisten verräumt.

Eigentlich alles mehr als in Ordnung. Und doch lässt es mir keine Ruhe, dass in meiner Wohnsituation Luft nach oben ist.

Der Blick durchs Schlüsselloch 

Ingrid Feigl wohnt ganz oben in einem Backsteinhaus. Ein Traum, wie sie sagt. Die gemütliche Wohnung, aber auch die wunderbare Aussicht. Sie mag es, über die Dächer Zürichs zu schauen. 

Nebenberuflich wirft die Psychoanalytikerin regelmässig einen Blick in das Heim von Unbekannten. Für die Rubrik «Wer wohnt da?» im «NZZ Folio» rätselt sie anhand von Wohnungsfotos, wer da leben könnte. Eine besonders aufgeräumte Wohnung – vielleicht ein Buchhalter? Ein kreatives Chaos – wohl ein Künstler?

Eine beleuchtete Wohnung. Sonst ist es Nacht.
Legende: Ein beliebtes Hobby: abends durch die Nachbarschaft schlendern und Wohnzimmer Fremder ausspähen. Wer da wohl wohnt? Imago / Depositphotos

So einfach ist es nicht – und darum so reizvoll. Seit 20 Jahren gibt es die Rätselrubrik schon, Ingrid Feigl ist seit 2007 mit dabei. Das Werweissen, wer da wohnen könnte, begeistert viele. Warum?

Der Blick in eine Wohnung, so Feigl, stille ein Bedürfnis, das wir schon von klein auf hätten: «Es ist der Schlüssellochblick, der eine urkindliche Neugier befriedigt.»

Das Kind, das wissen will, was die Eltern in der Stube reden oder im Schlafzimmer so treiben, lebt auch in uns Erwachsenen weiter. Ein Blick ins Heim verrate viel über die Bewohner: «Das Heim ist das Zentrum persönlicher Identität, ein Fingerabdruck», so Feigl. 

Wohnen im Luxus

Schon als Kind war ich verwöhnt – natürlich ohne es zu wissen. Ich wuchs als Einzelkind in einem Einfamilienhaus auf, mit grossem Garten. Auf dem Land in den 80ern war das normal. Kinder, die in Wohnungen wohnten, waren unter meinen Klassenkameraden selten. Spielte ich bei ihnen, war ich verblüfft: Die haben wirklich nur einen Balkon?

Als Teenager tauchte ich dann in Luxuswohnwelten ab: In der TV-Sendung «MTV Cribs» luden Prominente in ihre Villen, die meist so prollig und protzig waren wie sie selbst. Mega-Kino im Keller? Klar. Ein Infinity-Pool? Mindestens drei. Und der Kühlschrank? Eigentlich ein Kühlraum. Ich fand’s klasse.

Rapper 50 Cent neben einem Kronleuchter.
Legende: Rapper 50 Cent hat genug Geld für einen fetten Kronleuchter. Szene aus «MTV Cribs». AP Photo / MTV

Aufs Kino im Keller könnte ich heute verzichten – ich mag’s mittlerweile lieber schön schlicht. Auch bei den Wohnformaten: Bei Zeitschriften wie «Schöner Wohnen» oder der «Wohnrevue» greife ich zu. Richtig hängen bleibe ich immer bei AD. 

Wohnträumchen in Sicht 

«Architectural Digest» ist «Schöner Wohnen» in Perfektion. Die Scheune, die zur Luxuswohnung wird, die Stadtwohnung, einst baufällig und heute ein Designtempel. Jedes Heim ist eine Perle. Oft bewohnt und präsentiert von Prominenten, immer von schönen Menschen. Es ist perfekter Wohnporno, wenn man so will, der mich anzieht – und provoziert. 

Denn: Mietwohnungen, die so aussehen, kann ich mir als Durchschnittsverdienerin nicht leisten. Und Eigentum ist in einem Land, wo hauptsächlich das Erben Reichtum verspricht, sowieso ausser Reichweite. Mein Traum, er muss also ein Träumchen bleiben. Er darf den Rahmen nicht sprengen.

Das perfekte Nest 

Wichtig sei uns das Wohnen, weil wir uns in den vier Wänden das Paradies erhoffen, sagt Doris Dörrie in der «Sternstunde Philosophie». «Es ist eine sehr alte Vorstellung, dass innerhalb unserer vier Wände das Glück passiert», sagt die Filmemacherin und Schriftstellerin.

Früher sei nur schon das Dach über dem Kopf Glück gewesen, habe Schutz geboten und Freiheit versprochen. Heute hätten sich die Bedingungen, die wir uns selbst stellen, verändert. Die Ansprüche seien gestiegen. 

Das Feilen an der Wohnsituation ist nämlich auch mit dem Versprechen auf ein besseres Leben verbunden. Eine Wohnung, vielleicht mit Fischgrät-Parkett oder mit grösseren Fenstern, kann vielleicht auch bessere Aussichten im Leben verheissen.

Wohnen als Kulisse 

Dörrie hat eben ein Buch veröffentlicht, das das Thema im Titel trägt: «Wohnen». Dort erzählt sie von ihrer Wohnbiografie. Ihren Wohnort hat sie schon oft gewechselt, hat in WGs gelebt, mit Partnern und allein. Heute lebt sie in München.

Buchhinweis

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Doris Dörrie: «Wohnen». Hanser, 2025.

Das Chaos in ihrer Wohnsituation, das sie selbst für schön befindet, hat sie immer begleitet: «Ich war schon immer schlampig.» Als Autorin und Regisseurin richtet sie auch immer wieder Wohnungen von fiktiven Charakteren ein. Am besten sei sie darin, «Filmwohnungen zuzumüllen». 

Jedes Möbel, jedes Detail erzähle dabei eine Geschichte. Denn: «Jede Umgebung ist auch eine Metapher für die Menschen.» 

Im besten Lichte präsentieren

Sessel, Bücher, Lampen können Menschen ins passende Licht rücken. Aber auch ins gewünschte. Das beobachtet auch Ingrid Feigl. 

Ein Tischchen mit Büchern drauf.
Legende: Auch gut fürs Image: Coffee-Table-Books rücken die Bewohnerinnen und Bewohner ins beste Licht. Getty Images / The Sydney Morning Herald

Rückzug, Schutz, Intimität: Die Wohnung habe verschiedene Funktionen. Für manche Menschen, sagt die Psychoanalytikerin, sei die Wohnung auch eine Bühne: «Die Wohnung kann auch eine Idealvorstellung sein von dem, was wir sein möchten.»

Im Designer-Sessel sitzt auch der besonders gute Geschmack. Im Bücherregal aus der Brockenstube sieht man die Achtung vor dem Antiken. Die Bücher, die auf dem Beistelltisch liegen, sprechen scheinbar Bände über den Bewohner oder die Bewohnerin. Wohnen kann auch Kulisse sein – zeigt uns im besten Lichte.

Glattpolierte Wohnträume

Und natürlich: Wo scheinbare Perfektion eine Rolle spielt, sind auch die sozialen Medien nicht weit: Viele Influencerinnen verdienen ihr Leben mit makellosen Wohnwelten.

Ihre Wohnträume, meist in Beige und unpersönlich, schreien jedoch nach Katalog. Ihre Follower scheint das nicht zu stören: Es ist nämlich praktisch, wird zum perfekten Leben gleich das passende Möbelstück verlinkt.

Kürzlich habe ich mir eine Wandlampe von einem dänischen Designer gekauft – entdeckt natürlich auf Instagram. Die ist edel und erschwinglich. Seit sie da an der Wand hängt, glaube ich, dass sie meinen Alltag jeden Abend etwas schöner macht. 

Gute Aussichten

Ich weiss, es ist schon Luxus, überhaupt eine (schöne) Wohnung zu haben. Aber wenn ich noch kurz träumen darf: Am liebsten hätte ich eine Wohnung in Paris. Schön gross, mit kleinem Balkon – nahe der Seine. Mit Möbel aus der Brocante. 

Bis dahin richte ich mich so gut wie möglich in meiner Wohnung ein. Und putze die Plastikfenster regelmässig für eine bessere Aussicht.

SRF-Sendung «Wer wohnt wo?»

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Fünf Protagonisten mit fünf komplett unterschiedlichen Häusern: In der SRF-Sendung «Wer wohnt wo?» ziehen fünf Mitspieler mit Moderator Sven Epiney von Haus zu Haus und versuchen durch geschicktes Befragen, Beobachten und Kombinieren herauszufinden, welches Zuhause zu welcher Person gehört.

Die Serie ist auf Play SRF zum Nachschauen verfügbar.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 6.4.2025, 11:00 Uhr; sten

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