Der 7. Oktober 2023 markiert eine Zeitenwende im internationalen Debattenklima: Seit dem grausamen Terrorangriff der Hamas und dem darauffolgenden, bis heute andauernden, Krieg in Gaza, sind eine globale Linke, Universitäten und die Kulturbranche tief gespalten.
Den Autor Jens Balzer hat die ausbleibende Empathie für die israelischen Opfer von vielen seiner Freunde und Mitstreiterinnen erschüttert. «Ich habe es noch nicht so richtig zusammengekriegt», sagt er am Telefon, «wie eine woke Linke, die sich für besonders achtsam, sensibel, politisch aufgeklärt hält, diese unfassbaren brutalen Ereignisse und auch sexualisierte Gewalt als dekolonialen Befreiungskampf bejubeln kann.»
In seinem neuen Essay «After Woke» sucht Balzer nach Gründen für die einseitige Solidarität dieses Teils der Linken mit dem palästinensischen Volk, während sich der andere Teil (auch) mit Israel solidarisiert. Er will wissen, warum die Frage des Nahostkonflikts sie so spaltet – und wie sie wieder ins Gespräch kommt.
Moralischer Bankrott der Linken
In den Wortschlachten der vergangenen Monate sind viele Stimmen verstummt. Die Sorge vor rassistischer und antisemitischer Hetze ist gross, nicht zuletzt, weil Repression und tätliche Angriffe zugenommen haben. Jüdische Studierende meiden Universitäten; Menschen wird in Berlin das Demonstrieren für die Rechte des palästinensischen Volks verboten. Die polarisierten Debatten sorgten unter anderem dafür, dass die Findungskommission der Documenta zurücktrat, die eigentlich einen Antisemitismus-Eklat des Vorjahres aufarbeiten sollte.
Balzer attestiert der woken Linken einen «moralischen Bankrott». Er belässt es aber nicht beim «Bashing», sondern fragt nach den Gründen für die Unaufrichtigkeit gegenüber dem Leid der israelischen Bevölkerung.
Was bedeutet «Wokeness»?
Dafür zeigt er zu Beginn seiner kurzen Streitschrift auf, welche Werte und politischen Traditionen sich ursprünglich hinter «Wokeness» verbergen. Denn in den aktuellen Diskursen kapern meist rechtspopulistische Parteien wie die US-amerikanischen Republikaner oder die deutsche AfD den Begriff für ihre eigenen Kulturkämpfe. Und linke Intellektuelle wie Susan Neiman behaupten, Links sei nicht gleich woke.
Bei der Recherche seines Buchs entdeckt Musikkenner Jens Balzer den Ausdruck «Stay woke» erstmalig in einem Lied des Bluessängers Lead Belly von 1938. 70 Jahre später taucht er wieder bei der R’n’B-Sängerin Erykah Badu auf und wandert schliesslich in die Black-Lives-Matter-Bewegung ein. «Stay Woke» war zunächst ein Appell afroamerikanischer Communities, wachsam zu bleiben für die eigene Diskriminierung und die anderer.
Balzer interpretiert den Begriff der Wokeness in Anlehnung an den deutschen Philosophen Jürgen Habermas wie folgt: aufmerksam zu sein, dass alle Menschen sich in öffentliche Debatten einbringen können. «Das ist im Grunde nichts anderes als der Kern der liberalen Demokratie», sagt Balzer im Gespräch. Obwohl es utopisch sei, sollten alle Demokraten und Demokratinnen das Ziel haben, alle Positionen in einer Gesellschaft gleichermassen hörbar zu machen.
Ist der Postkolonialismus an allem Schuld?
Gründe, warum dieses Ziel für viele Linke vermeintlich nicht mehr zählt, und sie sich lieber gegenseitig den Mund zu verbieten scheinen, findet Balzer in der Denkrichtung des Postkolonialismus. Die Einstellungen vieler progressiver Linker basieren auf dieser politischen Strömung, die sich in den 80er-Jahren zu einer akademischen Disziplin formierte. «Damals ging es um Befreiung und das Hybride», erklärt Balzer die anfänglichen Ideen. «Die Vermischung von Kulturen galt als Ausweg aus dem Kolonialismus, der mit fixen essentialistischen Identitätskonzepten gearbeitet hat.»
Ein «essentialistisches» Identitäts- oder Kulturkonzept beschreibt eine ursprüngliche Einheit, die nicht verändert werden soll. In dieser Denktradition werden Menschen stark nach ihren Kulturen und Herkünften getrennt.
20 Jahre später entstehen dann neue Denkweisen im Postkolonialismus. Im Kampf gegen anhaltende koloniale und rassistische Strukturen in der Gesellschaft trennen einige Intellektuelle und Aktivisten Kulturen wieder stark voneinander. Auf der einen Seite das Gute: unterdrückte indigene Völker. Auf der anderen Seite das Böse: der sogenannte Westen, der für ein wachstumsorientiertes, globales modernes Zeitalter steht. Die Kritik an den darin eingebetteten Machtstrukturen und Ausbeutungsverhältnissen gehört seit jeher zu einer linken DNA.
«Problematisch wird es aber dann, wenn der Begriff des Indigenen dazu benutzt wird, eine vorzivilisatorische, unbewegliche, authentische, kulturelle Einheit zu beschreiben», erklärt Balzer im Gespräch die gefährliche Reduzierung von Kulturen.
Verfehlte Vereinheitlichung
Wird dieses Weltbild dann auf den Nahostkonflikt übertragen, bedeutet das: «Juden und Jüdinnen erscheinen plötzlich als weisse Menschen, die eine indigene Bevölkerung (hier: palästinensische) kolonisiert haben», ordnet Balzer beim Telefonat ein.
Dabei erscheint sowohl «der Jude» als auch «der Palästinenser» als eine homogene Einheit. Das ist problematisch. Denn die israelische Bevölkerung ist genauso vielfältig und divers, wie das palästinensische Volk mehr ist als die Hamas und das Recht hat, sich emanzipieren zu können.
Die Verengung auf fixe Identitäten sei zudem eine Gefahr für das Wesen der liberalen Demokratie. Denn Kulturkonzepte, die eine Identität hervorheben und andere abwerten, seien Teil rechter Ideologien. Zudem nutzten Rechtspopulisten die Widersprüche vieler Linker für die Zementierung des eigenen Weltbildes: Seht her, Wokesein ist eine Zumutung: Achtsamkeit war ihnen niemals ernst, denn sie verbieten euch, frei zu denken.
Woran kränkelt die Linke?
Warum aber fallen viele woke Linke in ein solches Schwarz-Weiss-Denken zurück? Auf seine Thesen im Buch befragt, spricht Balzer von einer «intellektuellen Projektion», die viele Linke für das Stärken der eigenen kollektiven Identität nutzten. In einer komplexer werdenden Welt, geht es vielen Linken scheinbar darum, ein «falsches Bewusstsein» anderer aufzudecken und die eigene Weltsicht als einzig richtig darzustellen. Balzer spricht hier von einer «moralisierenden Selbstüberhöhung», die blind mache für andere Meinungen.
Balzer attestiert der globalen Linken also einen insgesamt verheerenden Status-Quo. Doch ist das neu? Fragmentiert und zerstritten war die globale Linke schon immer. Zu viele starke Denker und Denkerinnen, die sich mit Theorien und Praktiken überbieten, wie die Welt eine bessere werden kann.
Balzer sieht ein anderes Problem: «Es hat sich sehr schnell ein Umsturz ins autoritäre Denken ergeben». Das habe es bereits in den 70er- und 80er-Jahren gegeben, als sich progressive Linke in Frankreich, Deutschland und auch der Schweiz von allen Arten des Autoritären befreien wollten. Als Beispiel nennt Balzer die linksextremistische Terrororganisation RAF, die einen Hang für maoistische Diktaturen hatte. «Das vollzieht sich heute im Massstab des Postkolonialismus», sagt Balzer. «Eine Phase der geistigen Befreiung schlägt um in ein starkes Schwarz-Weiss-Denken.»
«Es gibt nichts mehr zu reparieren»
Zermürbende Kulturkämpfe an Universitäten, ein zerbrochener Kulturbetrieb, vergiftete Debatten. Ist eine woke Linke damit tatsächlich kaputt? «Da gibt es, nichts mehr zu reparieren», konstatiert Balzer. Der Autor ist überzeugt, dass der Gegensatz von Links und Rechts nicht mehr funktioniert. «Wir sehen jetzt in aller Deutlichkeit, dass sich autoritäres, identitäres, Schwarz-Weiss-Denken sowohl auf der Seite der Rechten als auch auf der Seite der bisher sogenannten Linken findet.»
An diesem Punkt würden Balzer sicherlich andere linke Denker und Denkerinnen widersprechen. Zu sehr erinnert eine solche Ausdrucksweise an die Hufeisentheorie, die keinen Unterschied zwischen Linksradikalismus und Rechtsradikalismus macht. Die Kritik daran: Die Vielschichtigkeit zwischen demokratisch und antidemokratisch wird verschleiert.
Hoffnung für die Zukunft?
In seinem Essay verhandelt Jens Balzer einen konkreten Aspekt des komplexen Diskurses, den die erneute Eskalation in Nahost unter Intellektuellen ausgelöst hat. Andere Bereiche werden deswegen nur gestreift. Er geht nicht auf die vielschichtigen Beweggründe propalästinensischer Bewegungen ein. Obwohl das Reizwort «woke» im Titel auftaucht, vertieft Balzer die Anti-Woke-Diskurse von populistischer und konservativer Seite nicht. «Die» woke Weltsicht gibt es wohl ohnehin nicht. Balzer bemüht sich zwar um eine Differenzierung woker Linker, doch am Ende ist es der persönliche Blick auf sein linkes Umfeld.
Was findet man in Balzers Essay? Der Autor möchte Menschen im deutschsprachigen Raum erreichen, die ähnlich erschüttert sind wie er: Sich als links verortende Menschen, die sich nicht eindeutig positionieren wollen und Angst haben, sich überhaupt zu äussern. «Ich möchte eine kleine Gegenmacht aufbauen», sagt Balzer. Das bedeute Mut machen, sich wieder gemeinsam auszutauschen.
Das Buch ist zudem ein Appell, rechtspopulistischen Kräften keinen Triumph zu überlassen. Der Kern woken Denkens ist für Balzer weiterhin ein Kampf für freiheitliche Werte. Und den möchte er sich nicht nehmen lassen. Weder von Rechts noch von Links. Für die Zukunft wünscht sich Balzer, dass Teile der Linken sich wieder die ursprünglichen Werte woken Denkens in Erinnerung rufen und sensibel werden für andere Diskriminierungen, allen voran Antisemitismus.