Das Tor ist offen. Ich bin umringt von Menschen, die hineinströmen. Ich aber schaffe es nicht. Dabei bin ich nach Konya gereist, um genau hier zu sein: an diesem spirituellen Wallfahrtsort in einer der ältesten Städte der Welt.
Wo Derwische ruhen
Die Sonne strahlt aus allen Seiten in mein Gesicht. Etwas geblendet spüre ich, wie mein Herz schneller pulsiert. Der Klang der Bambusflöte erklingt leise aus dem Innenraum. Doch mein Herz findet nicht den Rhythmus. Erstarrt stehe ich vor dem Mausoleum des bedeutenden muslimischen Dichters und Mystikers Dschalal ad-Din Rumi.
Im Herzen von Konya liegt seine Grabstätte in einem alten Rosengarten. Rosen schmücken heute noch den Ort, die Heimat der tanzenden Derwische. Doch offiziell ist es seit 1925 ein Museumskomplex, das einige Grabstätten der Derwische beherbergt.
In dieser Gegend fand Rumi als Kind mit seiner Familie Zuflucht, die aus Balkh, einer alten Kulturstadt aus dem heutigen Afghanistan stammt. Vielleicht ist es diese Bindung, vielleicht die Erfüllung einer Sehnsucht, einmal zum Grab Rumis zu pilgern, die mich erstarren lässt.
Zwei zauberhafte Zeilen
Eine Frau sitzt direkt am Eingang und rezitiert mit geschlossenen Augen Gedichtverse aus seinem Diwan. Als würde sie zum Inventar des Ortes gehören, wird sie kaum beachtet. Nur in Momenten der Stille, die sich immer wieder einstellen, kann ich genau vernehmen, aus welchem Gedicht sie gerade vorträgt.
Die Zeilen entführen mich in meine Kindheit in Kabul. Dort hatte Rumi mein Herz erobert. Es waren seine Gedichte, seine Liebesbotschaft, die mich auf der Flucht begleiteten und in mir Sehnsucht entfachten. Über dem Tor sind persische Inschriften zu lesen.
Ein älterer Herr versucht, ein Wort zu entziffern: «Maulana», unser Meister, wie er auch genannt wird. Ich spreche ihm nach. Darunter sind zwei Verse von Rumi zu lesen, die mich tief treffen: «Dieser Ort ist die Kaaba der Liebenden. / Wer gebrochen kommt, wird hier ganz.»
Tränen der Trauer
Hier bin ich, kämpfe mit den Tränen und verliere den Kampf. Aber ich bemerke, dass ich nicht allein bin. Einige stehen hier und fühlen die schweren Beine. In jedem Gesicht kann ich Trauer, Hoffnung und vor allem Schmerz entdecken. Sie sind nicht gleich, aber sie tragen sie hierher – vor das Tor von Maulana. Plötzlich erscheint eine ältere Dame, die mir eine Handvoll Süssigkeiten aus ihrer Tasche anbietet. Ich schaue sie an. Sie spricht türkisch, ich verstehe kein Wort.
Ich entdecke neben mir vor dem Tor eine kleine Grabstätte der Flötenspieler – umringt von Rosen. Die Dame mit den Süssigkeiten steht neben mir und nickt mir zu. Dann zieht es mich stürmisch hinein. Der Innenraum ist von Kalligrafien, alten Koranausgaben, zierlichen und prächtigen Leuchtern geschmückt. Am Ende des Ganges auf der rechten Seite liegt Rumi neben seinem Sohn, zu Füssen seines Vaters.
Rumis Grab ist von einem grünen Tuch umhüllt, das in goldener Verzierung Koranverse enthält. Mit einem Holzgitter werden die Pilgernden auf Abstand gehalten. Alle, die dort stehen, haben die Hände nach oben gestreckt und beten. Eine Frau hält ihr Kind hin. Es duftet nach Rosenwasser. Anstatt weiter zum Grab Rumis hinzuschauen, schliesse ich die Augen und erhebe nun meine Hände.
Ich weiss nicht genau, ob meine Sehnsucht gestillt ist, wofür oder für wen ich bete. Aber meistens für den, der am Tor steht und nicht hineinkommen kann.