Ein alter Nachtzug brachte uns von Delhi nach Varanasi, in die heilige Stadt am Ganges. Während der Fahrt schloss ich kein Auge, denn das Rattern des Zuges vermählte sich in einem disharmonischen Akkord mit dem Schnarchen der Mitreisenden.
Als wir morgens um 06:45 Uhr ankamen, zeigte der Blick aus dem Fenster, dass auch der Empfang nicht minder herzlich würde: Auf dem gegenüberliegenden Gleis putzte sich ein Greis die Zähne mit einem Ysop-Stöckchen und spuckte uns dabei entgegen.
Ein Bad in Mutter Fluss
Wir setzten unseren Weg an etlichen Kühen vorbei und über staubigen Boden in Richtung Ganges fort. Schon in den frühen Morgenstunden gab es überall Gehupe. Doch dann wurde es plötzlich still.
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, tauchten wir in eine Ruhe ein, die von einem meditativen Gesang unterstrichen wurde. Am Ufer der Mutter Ganga – wie der Fluss, der vom Himalaya in die Millionenstadt fliesst, auch genannt wird – standen, in feinen Dunst gehüllt, Hindus in weissem Lendenschurz.
Shivas Geburtsstadt
«Om Namah Shivaya», verehrt seist du, Gott Shiva, rezitierten sie in die Morgenluft. Die folgenden Tage wurde ich regelmässig Zeugin dieser Begrüssung. Die Mönche in Varanasi singen sie zu Ehren Shivas, um sich anschliessend ins Wasser zu stürzen. Die Stadt gilt als Geburtsort des Gottes.
Ghats heissen die Treppen und Promenaden, die zwischen Stadt und heiligem Fluss liegen. Von dort aus könnte man sich in Venedig wähnen, wären da nicht die vielen Scheiterhaufen, deren Rauch man bei einem Gang entlang des Flusses begegnet.
Die Leiche und das Lassi
Denn viele hinduistische Pilger kommen nicht nur nach Varanasi, um ihre Sünden im heiligen Wasser des Ganges reinzuwaschen. Viele wollen auch hier sterben, in der Hoffnung auf Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburt. So wird es zur Alltäglichkeit, dass man beim Stadtbummel auf einen Leichenzug trifft.
Meiner ersten Leiche begegnete ich beim Lassitrinken. Ich sass vor dem Shop und netzte meine Lippen an einem Tonbecher mit dem süssen Joghurtgetränk, als Männer mit einer Trage und orange-goldenen Tüchern darauf an uns vorbeigingen.
Erlösung im Trubel
«Ram Naam Satya Hai», sangen sie mit inbrünstigem Ernst. «Der Name von Lord Rama ist Wahrheit». Der Gesang soll den Seelen der Verstorbenen helfen, Erlösung zu finden.
In Varanasi sind die Toten inmitten der Lebenden, die feilschen, sich die Haare schneiden lassen oder Gemüse verkaufen. Durch dieses Gewühl müssen sie ein letztes Mal hindurch, um am Ganges in die ewige Ruhe verbrannt zu werden.
Bloss: Auch die Verbrennung ist ein Gesellschaftsakt. Hunderte von Männern (angeblich seien Frauen hier nicht erlaubt) stehen um die vielen Feuerstellen herum. Die Flamme dafür wird aus dem Shivatempel direkt daneben geholt. Und man schaut und hört zu, wie die Einstigen im Feuer verschwinden.
Der Tod ist hier kein Fremder
Selbst hier gehen Kühe umher. Sie machten bei meinem Besuch nicht den Anschein, als würden sie sich um Regeln kümmern. Bestürzt beobachtete ich, wie sie über eine Leiche stolperten, die neben einem Scheiterhaufen der Flammen harrte.
Auch wenn der süsslich ätzende Duft, der von diesen Scheiterhaufen ausgeht, sehr gewöhnungsbedürftig war, frage ich mich doch: Liegt darin nicht vielleicht eine grössere Weisheit verborgen? Denn wenn der Tod derart nahe ans Leben geholt wird, kann er uns nicht mehr fremd bleiben.