Staunend stehe ich in der Kirche St. Georg auf der Insel Reichenau und betrachte die Wandmalereien. Mönche haben die Fresken vor mehr als tausend Jahren geschaffen. Sie zeigen Jesus, wie ich ihn mir vorstelle: nahe bei den Menschen. Jesus heilt Menschen, erweckt sie vom Tod, beruhigt einen Sturm auf dem See und nimmt den Menschen die Angst. Der Freskenzyklus ist einmalig nördlich der Alpen.
Die Insel Reichenau im Bodensee – sie wird gerne mit der Blumeninsel Mainau verwechselt – ist ein geschichtlich-kultureller Hotspot, eine Wiege des Abendländischen. Die Klosterkultur wirkt sich aus in der Religion, Malerei, Literatur, Architektur, im Ackerbau und in der Heilkunde und Medizin.
Eine Oase der Stille
Auf dem Uferweg schlendere ich nach Mittelzell, einer kleinen Ortschaft in der Mitte der Insel. Ich komme an einer Fischhandlung, Gemüsefeldern und Blumengärten vorbei. Drei romanische Kirchen sind auf der Insel erhalten. Ich liebe die grossen Kirchenräume ohne Firlefanz. Im Sommer sind sie kühle Oasen und lassen mir Raum zum Dasein und Meditieren.
Im Kloster auf der Reichenau zeichnen um das Jahr 825 Mönche den St. Galler Klosterplan. Heute kann er im Stiftsarchiv in St. Gallen bewundert werden. Es ist die älteste Architekturzeichnung Europas, entworfen für das Kloster St. Gallen, eine Fundgrube für die Forschung. Der Plan zeigt die ideale Siedlung des Mittelalters mit Kloster, Kirche, Gärten, Tiergehegen, Brauerei, einer Armenherberge und einem Spital.
In St. Gallen ist der Plan nie vollständig umgesetzt worden. Heute wird er in Messkirch am Bodensee von Idealisten mit den Instrumenten der damaligen Zeit originalgetreu nachgebaut. Dereinst sollen dort alle rund 50 Gebäude des Plans stehen.
Von Reichenau lernte sogar die moderne Medizin
Im Klostergarten neben dem Münster in Mittelzell zerreibe ich Pfefferminzblätter zwischen den Fingern. Hier hat einst der Dichtermönch Walahfrid Strabo seine Heilkräuter angepflanzt. 24 Heilkräuter und ihre Wirkung beschreibt er in seinem Gartengedicht Hortulus.
Das Werk ist die früheste Garten- und Pflanzenbeschreibung des Mittelalters. Die Klostermedizin wird zur Grundlage der modernen Medizin und beflügelt bis heute die Naturheilkunde.
Das alte Erbe lebt neu auf
Neben der Heilkräuterkunde ist der Mönch Walahfrid Strabo auch für sein Werk «Visio Wettini» bekannt. Darin schildert er die Lustbarkeiten und Schrecken des Jenseits. Es ist inspiriert von der Nahtoderfahrung seines Mitbruders Wetti kurz vor dessen Tod. Dabei begegnet Bruder Wetti Menschen im Jenseits, darunter Kaiser Karl dem Grossen im Fegefeuer. Als Strafe für dessen ausschweifenden Lebenswandel werden seine Genitalien von einem grossen Tier zerfetzt. Die Vision ist ein Vorläuferwerk der «Divina Commedia» von Dante Alighieri und trägt zur Jenseitshysterie im frühen Mittelalter bei.
Seit 2001 leben nach einer Pause von 250 Jahren wieder fünf Frauen und Männer des Benediktinerordens auf der Insel Reichenau. Sie singen und beten mit Pilgerinnen und Pilgern, die auf dem Meinradweg unterwegs sind. Sie knüpfen damit an das Erbe ihrer Vorgänger auf der Insel an.