Ich dachte immer, ich wüsste alles über den Jura. Bereits als Teenager fuhr ich regelmässig dorthin, um den Geist der Freiheit zu atmen, in den Freibergen zu wandern und Kaffee aus La Chaux-de-Fonds zu trinken.
Doch ich musste bis nach Brüssel fahren, um zu lernen, dass es im Jura eine eigene Form des Jugendstils gibt, den «Style sapin» (deutsch: Tannenstil). Das chef d’oeuvre dieses Stils ist das Krematorium des Friedhofs in La Chaux-de-Fonds.
Es ist Ostermontag, als ich das Krematorium besuche. Das passt. An Ostern ist Jesus auferstanden. Wolfgang Carrier erwartet uns am Eingang zum Friedhof. Den Schlüssel zum Krematorium in der einen, ein Mäppchen mit Informationen zur speziellen Form des lokalen Jugendstils in der anderen Hand.
Es ist noch frisch Anfang April. La Chaux-de-Fonds, das muss man wissen, liegt 1000 Meter über dem Meer. Schneefall im April ist deshalb keine Seltenheit.
So monumental wie bunt
Ich weiss, dass wir vor dem Krematorium stehen, weil ich zuvor Fotos davon gesehen habe. Aber für mich wirkt es nicht wie eines: Ein Kubus aus weissem Quaderstein mit einem Pyramidendach, davor eine Art Zelt, ein Vorbau, in den eine monumentale Treppe hineinführt. Der Torbogen ist zwar mit typischen Elementen des Style sapin verziert, mit Zweigen und Tannzapfen, doch das ist alles Ton in Ton, komplett weiss.
Im Innern dann das pure Gegenteil: Metallreliefs, Mosaike, Buntglasfenster, Wandmalereien. Die Pyramide ist komplett ausgemalt, verziert mit Ornamenten in Gelb- und Rottönen.
In der Mitte – und darauf fällt der Blick unweigerlich als Erstes – ein riesiges Gemälde in Blautönen: Es zeigt Lebende in transparenten Gewändern, die Tote betrauern, in Cinemascope und kompletter Symmetrie. Wären da nicht die Urnen, die grossen Kelchen ähneln – ich wüsste nicht, dass ich in einem Krematorium stehe.
Wirtschaft sei Dank
Was uns zur Frage bringt: Warum sieht dieses Krematorium so aus, wie es aussieht? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts platzte La Chaux-de-Fonds aus allen Nähten. Die Wirtschaft – allen voran die Uhrenindustrie – brummte. Leute aus ganz Europa kamen in die Stadt, um hier zu leben.
Um ihren Weg ins «au-delà», wie das Jenseits auf Französisch heisst, zu erleichtern, liess die Stadt ein neues Krematorium bauen.
Sozialismus statt Christentum
Charles L’Eplattenier, der Leiter der Kunstschule, und seine Schüler (es waren tatsächlich fast alles Männer) wurden mit der Gestaltung beauftragt. Sie zeichneten, malten, klopften und bildhauerten, was das Zeug hielt. Ohne Referenz ans Christentum, wie mir scheint.
Wolfgang Carrier, ein lokaler Tourguide aus La Chaux-de-Fonds, pflichtet mir bei: Es gab bereits damals viele Leute, die keiner Religion angehörten, weil dies nicht mit ihren Überzeugungen zu vereinen war, dem Sozialismus. 1912 wurde «La Tchaux» als erste Schweizer Stadt sozialistisch und ist es bis heute geblieben.
Getragen auf der letzten Reise
Doch wie sehen Krematorien eigentlich sonst so aus? Ich weiss es nicht, da mich das Schicksal bisher davor bewahrt hat, mich in eines begeben zu müssen.
Eines weiss ich aber: Hier würde ich mich wohl und getragen fühlen, wenn ich eines Tages meine letzte Reise antrete. Wolfgang Carrier jedenfalls hat sich seinen Platz schon reserviert.