Stellen Sie sich vor, ein Autor schreibt, Ihr Grossvater hätte im Jahr 1945 als Regisseur 800 KZ-Häftlinge für Dreharbeiten benutzt. Zwar fiktiv, in einem Roman, der ist Kunst und die ist frei.
Aber der Autor habe exzellent recherchiert. Zeitungen veröffentlichen Fotos ihrer Angehörigen und übertiteln sie mit «Mensch ohne Moral». Sie erleben, wie Ihre Familiengeschichte überschrieben wird.
Daniel Kehlmann: Fiktion – als Fakt gelesen
Ein paar Wochen später werden Sie von Berufskollegen angesprochen: «Ja, meine Grossmutter war auch bis zuletzt Nazi.» Sie merken, wie sich das Bild Ihrer Familie im sozialen Umfeld verschiebt. Und fragen sich, wer Sie in Ihrem Umfeld deshalb künftig meiden wird?
Offenbar halten viele den Roman für bare Münze und Sie müssen sich zu einer Biografie verhalten, die nicht Ihre ist, sondern zu Ihrer gemacht wurde. Wie fänden Sie das?
Ausgelöst wurde das durch Daniel Kehlmanns neuen Roman «Lichtspiel».
«Lichtspiel» ist ein fiktionaler Roman über den einst berühmten, heute weitgehend vergessenen österreichischen Filmregisseur G. W. Pabst, über sein Leben und das seiner Familie in der Nazidiktatur. Kehlmann mischt darin Fakten und Fiktion.
Als Reaktion darauf haben die Nachfahren von G. W. Pabst unter Federführung von Marion Jaros, Enkelin von G. W. Pabst, einen 20-seitigen Faktencheck aufgesetzt, der SRF vorliegt. Darin listen sie Fiktionalisierungen auf, die nicht nur Leerstellen betreffen, sondern auch verdrehte historische Fakten.
Kehlmann sagt, er habe absichtlich nicht mit den Nachfahren gesprochen, um sie nicht zu enttäuschen, wenn er die Geschichte doch anders schreibt. Nämlich besser. Das ist eine originelle Argumentation.
Einerseits verzichtet er auf Fakten, andererseits nimmt er für sich in Anspruch, ein überaus gut recherchierender Autor zu sein, der, wie sein Leitspruch sagt, die «Wahrheit durch Erfindung hervortreten» lässt. Dieser Anspruch ist ein absoluter. Ein bisschen Wahrheit gibt’s nicht.
Kehlmann hat in einem Podcast und einer Videoaufzeichnung gesagt, «es muss so gewesen sein». Kehlmanns Absolutheitsanspruch ist verwunderlich. Das eigentliche Wunder aber ist, dass kaum jemand nachfragt.
Das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» ist eine Ausnahme und stellt eine bestimmte Episode zur Diskussion: Kehlmann schreibt, G. W. Pabst habe bei einem Film KZ-Häftlinge als Statisten benutzt.
Der «Spiegel» fragt: «Beim Lesen von ‹Lichtspiel› ist einem erst mal nicht klar, dass die Szene mit den KZ-Insassen erfunden ist. Es ist der moralische Tiefpunkt der Hauptfigur und damit der Höhepunkt des Romans. Ist das fair gegenüber dem historischen G. W. Pabst?»
Kehlmann: «Nein. Aber ich schreibe ja keinen Roman, um fair zu sein.»
Tritt so «durch Erfindung die Wahrheit hervor»? Kehlmanns Fiktionen von den Fakten zu unterscheiden, ist schwer. Da hätte SRF gerne nachgefragt. Für ein Interview hatte Kehlmann aber keine Zeit.
Das Zeitalter der Simulation
Vor vielen Jahren schrieb der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard, wir würden irgendwann im Zeitalter der Simulation leben, in dem Fakten und Fiktion nicht mehr in Reinform existieren, sondern als untrennbar verbundenes Gemisch.
Baudrillards Prophezeiung ist eingetreten. Diese Vermischung von Fakten und Fiktion nimmt rasend schnell zu. Seit den «alternativen Fakten» der Trump-Administration ist der Referenzpunkt des Faktischen in Auflösung, Fake News sind Alltag.
Die Verschmelzung von Fakt und Fiktion
Im Kulturbetrieb wird diese Vermischung auch aus gänzlich anderem Interesse betrieben. «Doku-Fiction» ist die Verschmelzung eines Widerspruchs, wenn man es eng sehen will.
Ein Boom, der seit Jahren zunimmt, ist der des Genres «True Crime»: Echte Fälle mit echten Toten werden zur Kriminalgeschichte. Der Werbespruch eines Anbieters: «Wahre Verbrechen. Mehr Crime, mehr Realität.»
Ist das Fakt, Fiktion, wahr? Oder funktioniert es genau aus dem Grund, dass man die Begriffe nicht mehr trennen kann und will? Alles ist täuschend echt.
Das «Echte» ist im Zeitalter der Simulation reproduzierbar geworden und vom «echten Echten» kaum noch zu unterscheiden. Die Künstliche Intelligenz wird dies weiter beschleunigen. Das ist die eine Seite der Entwicklung.
Lisa Gerig: nachgestellte Realität
Zur anderen Seite der Entwicklung gehört Lisa Gerigs Film «Die Anhörung». Sie betreibt die gleiche Verwischung von Fakt und Fiktion, macht sie aber durch einen Kunstgriff sichtbar.
Der Reihe nach: Gerigs Film ist eine nachgestellte Situation unter authentischen Rahmenbedingungen, in der reale Asylsuchende durch reale Beamte des Staatssekretariats für Migration (SEM) dazu befragt werden, warum sie in der Schweiz Asyl suchen.
Diese Anhörungen finden normalerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Gerig begibt sich in eines dieser schmucklosen Büros und wir werden Zeugin und Zeuge, schauen quasi durchs Schlüsselloch hinter die verschlossenen Türen, hinter denen «es um alles geht», wie einer der Asylsuchenden sagt. Wir beobachten, ganz unmittelbar, menschliche Grenzsituationen.
Ist das alles wahr? Oder erzählt jemand eine erfundene Biografie, um bleiben zu dürfen? Woran erkennt man eine Lüge? Das Ziel ist, eine Entscheidungsgrundlage zu schaffen: Asyl oder Abschiebung?
Gebrochene Realität
Wenn man das alles für Realität hält, tut Gerig etwas, das im wirklichen Leben so nie passieren würde und das den bis dahin geltenden Realismus bricht: Sie lässt die Beteiligten die Rollen tauschen.
Die Asylsuchenden befragen. Die Beamten antworten: Darf der mit der besten Geschichte bleiben? Wie gehen die Beamten mit Irrtümern um? Ist das Verfahren gerecht?
Durch die Rollenumkehr wird man Zeuge, wie sich das Machtverhältnis umkehrt. Man spürt den Druck der Situation, die plötzliche Wortsuche der Beamten. Gerig macht Spielregeln und Mechanismen sichtbar.
Eine Person fragt, ob diese Mechanismen taugen, Fakt von Fiktion zu unterscheiden auf der Suche nach Wahrheit. Gerig fällt kein Urteil. Das überlässt sie uns. Das ist der vielleicht grösste Unterschied zu Kehlmanns «Lichtspiel». Gerig setzt uns ihre Geschichte nicht als Wahrheit vor.
Barbara Visser: Wer hat’s erfunden?
Auf die Frage «Was ist Fakt, was Fiktion?» findet die niederländische Konzeptkünstlerin Barbara Visser einen analytischen Zugriff. Sie stellt sie sich in ihrer Ausstellung im Kunsthaus Zürich, «Alreadymade».
Thema ist die Geschichte eines der bekanntesten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. «Fountain», ein Urinal, wie man es auf Herrentoiletten findet, das 1917 zum Kunstwerk erklärt wurde.
Das mit «R. Mutt» signierte Objekt wurde anonym zu einer Ausstellung in New York eingesandt. Seit Langem kursieren Gerüchte, dass nicht Marcel Duchamp der Schöpfer und Absender war, sondern die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.
Visser stellt Quellen, Briefwechsel, Kunstgegenstände und einen Film über ihre Recherche aus. Sie geht vor allem der Frage nach: Wie geht man mit den Lücken in einer Geschichte um? Am Anfang hatte sie nur acht Fotos von Elsa von Freytag. Im Interview mit SRF sagt sie, sie habe sich gefragt: «Was soll ich damit?» Acht Fotos seien mehr Lücken als Fakten.
Auch die Biografie über Elsa von Freytag, verfasst von der amerikanischen Autorin Djuna Barnes, stellt Visser in der Ausstellung aus. Selbst die half ihr nicht weiter: Schreibmaschinenseiten mit handschriftlichen Korrekturen. «Was gilt jetzt? Was gilt von der ganzen Biografie, wenn Barnes selber sagte, sie sei damit gescheitert?»
Durch die Schriftstellerin Julia van Haaften erfuhr Visser vom Film «A Philistine in Bohemia». Ein Stummfilm von Edward D. Griffith, in dem Elsa von Freytag tanzt.
Visser hat diese Sequenz in ihren Film einkopiert und zeigt zusätzlich, wie eine Schauspielerin zu einem dreidimensionalen Avatar von Elsa von Freytag, also zu einer dreidimensionalen Hülle, digitalisiert wird. Der Avatar und die Frau ahmen Freytags Tanz nach. Sie werden ihr immer ähnlicher, ganz langsam.
Visser verwendete absichtlich eine veraltete Technik, damit man die Verwandlung mitbekommt: «Heute geht das viel schneller, perfekter.» Fragt sich: Kann man einfach Lücken in der Geschichte durch Fiktion mit technischen Mitteln schliessen? Was ist dann noch wahr? Was ist «das Original»?
Visser arbeitet intensiv an Fragen rund um Fakten und Fiktionen: sowohl künstlerisch als auch forschend. Sie leitet den Masterstudiengang «F for fact» am Sandberg Institute in Amsterdam.
Eine ihrer Studentinnen forscht zu einer Lücke der besonderen Art. Sie erfuhr, dass Silberfische in einem Archiv den Grossteil feministischer Literatur gefressen hätten.
«Was jetzt weniger daran liegt, dass diese Silberfische etwas gegen feministische Literatur hätten, als dass ihnen das Papier, auf dem die Werke gedruckt waren, gut geschmeckt hat. Wie kann man diese Lücken schliessen?», fragt sich Visser und mit ihr ihre Studierenden.
Gefährliche Gratwanderung
Archive sind kollektives Gedächtnis. Wenn das «vergisst», was ist da legitim? Geschichte neu erfinden? Visser sagt: «Ich halte die Verwischung von Fakten und Fiktion nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene für gefährlich, wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr darauf einigen kann, was noch Fakt ist.»
Kehlmann, Gerig, Visser: Drei Kunstschaffende, die nach Fakt, Fiktion und Wahrheit fragen. Kehlmann erhebt den Anspruch, die Wahrheit durch Fiktion hervortreten zu lassen. Lisa Gerig und Barbara Visser bleiben nah an den Fakten. Der Wahrheit kommen sie nah.