«Pilgern geht auch ganz ohne religiöse Motivation», heisst es in einer Broschüre von Schweiz Tourismus. Attraktive Bilder zeigen den Dom in St. Gallen, die Kartause Ittingen und das Kloster auf der St. Petersinsel im Bielersee.
Die Organisation vermarktet religiöse Orte weltlich: «Auf einer Jakobswegstrecke durch die Schweiz wird der Kopf frei und man lernt einige faszinierenden Klosteranlagen kennen.»
Aber: Klöster wie St. Gallen oder die Kartause Ittingen sind nur mehr Klosterhüllen. In den Gebäuden leben längst keine Ordensleute mehr. Die Marketingstrategie funktioniert trotzdem.
Mit Marketing zu den Millionen
St. Gallen vermarktet sein kulturelles Erbe offensiv. Etwa 140'000 Interessierte besuchen jedes Jahr den Stiftsbezirk, der seit 1983 Unesco-Weltkulturerbe ist. An Spitzentagen schlurfen bis zu 1000 Besucher und Besucherinnen in Filzpantoffeln über den Holzboden der Stiftsbibliothek.
Eine Studie der Universität St. Gallen beziffert den wirtschaftlichen Nutzen des Klosterbezirks für die Region mit 14 Millionen Franken jährlich. Gleichzeitig wird festgehalten, dass die Besuchenden lediglich eine Stunde im Klosterviertel bleiben, ein paar Erinnerungsfotos schiessen und dann weiterziehen. Zwei Drittel der Gäste machen spirituelle Gründe für ihren Besuch in St. Gallen geltend.
Die wuchtige Kathedrale des Bistums St. Gallen lädt zum Gebet ein. Hier sind Gallus und Otmar begraben. Die Namen von Stadt und Kanton erinnern bis heute an den Einsiedler Gallus.
Otmar gründet im 8. Jahrhundert ein Kloster. Eine spirituelle und kulturelle Entwicklung mit Ausstrahlung in ganz Europa setzt ein. Dieses kulturgeschichtliche Erbe entdecken Besucherinnen und Besucher heute neu.
Viel Erlös, viele Investitionen
Die Kartause Ittingen hingegen liegt fern von all der Hektik. Das ehemalige Kartäuserkloster im Kanton Thurgau ist seit 1983 ein Kultur- und Seminarzentrum. Bekannt sind die Ittinger Pfingstkonzerte.
Die Stiftung Kartause Ittingen hat im Jahr 2022 einen Bruttoerlös von knapp 20 Millionen Franken erwirtschaftet. Wobei der Reingewinn wegen Investitionen und Personalkosten bedeutend schmaler ausgefallen ist.
Die Schweiz ist aufs Labyrinth gekommen
Das Klostererbe der Kartäuser ist in Ittingen präsent, auch wenn viele Firmen ohne spirituelle Bezüge tagen. Im verwunschenen Klostergarten gehen Besuchende durch ein Labyrinth: hin und her, vorwärts und zurück, bis die Mitte vor ihren Füssen liegt. Dort halten sie inne, kehren um und gehen denselben Weg zurück – hinaus in den Alltag.
In der Antike ist das Labyrinth ein Irrgarten, in dessen Mitte das Ungeheuer Minotaurus lauert. Im Christentum wird das Labyrinth zu einem Symbol für den Lebensweg.
Seit wenigen Wochen gibt es auch beim Grossmünster in Zürich ein Labyrinth. Die Altstadtkirchen von Zürich locken Besucherinnen und Besucher mit unkonventionellen spirituellen Erlebnissen: Sie nehmen an einer meditativen Nachtführung teil, besteigen einen Kirchturm und besichtigen Glocken und Uhren. Sie hören die Geschichte der Stadtheiligen Felix und Regula oder Anekdoten aus dem Alltag der kirchlichen Angestellten.
Wir Pilgernde beten mit den Füssen.
Die Rechnung geht auf: Mehrere hunderttausend Besucherinnen und Besucher aus aller Welt pilgern jedes Jahr in die Zürcher Altstadtkirchen.
Wandern mit spirituellem Twist
Für gewöhnlich gilt Pilgern eher als katholische Spezialität. Aber auch die reformierte Kirche überrascht mit einem Pilgerzentrum. Es ist bei der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich angesiedelt – und das schon seit 1996.
Die Gemeinde beläuft sich dort auf etwa 120 Menschen. Sie nutzen die Angebote des Pilgerzentrums regelmässig. Sei es das Tagespilgern oder das Projekt «LAufmerksamkeit», ein Gehen in der Stille – meist auf längeren Strecken über mehrere Tage hinweg. Aber das sei keineswegs ein Kriterium für eine Teilnahme an den Angeboten, schmunzelt Pilgerpfarrerin Franziska Bark Hagen.
Pilgern ist Alltagsflucht
«Unsere Gemeinde ist in der Regel nicht so kirchennah, wenn es um den Sonntagmorgen-Gottesdienst geht. Wir Pilgernde beten mit den Füssen», erklärt Bark Hagen. Für sie ist das Pilgern eine wunderbare Weise, um sich mit sich selbst zu verbinden, mit der Natur und mit Gott.
Sie erklärt: «Das lateinische Wort für ‹Pilger› lautet ‹peregrinus›. Darin steckt ‹per ager›, was so viel bedeutet wie ‹der von jenseits des Ackers›. Pilgernde verlassen den eigenen Acker, den gewohnten Alltag. Sie brechen auf, um sich selbst ‹fremdzugehen›. Dabei kommen oft Fragen auf, wie: ‹Lebe ich die beste Variante meiner selbst?›.»
Die Pilgerpfarrerin will zukünftig neue Angebote auf die Beine stellen: etwa Pilgern an Unorte. Also dorthin pilgern, wo die Schöpfung Gottes mit Füssen getreten werde.
Schweiz: ein Zentrum der Pilgerei
Pilgerreisen boomen nach einer coronabedingten Delle. Auf dem Jakobsweg sind jedes Jahr mehr Menschen unterwegs. Im Jahr 2022 sind etwa 400'000 Menschen in Santiago de Compostela angekommen, das ist ein neuer Rekord. Wobei die Ankünfte und nicht die Pilgerkilometer gezählt werden.
Ein ganzes Netz von Pilgerwegen durchzieht auch die Schweiz. Der Jakobsweg ist einer von vielen. Die Via Francigena führt von Canterbury nach Rom – und dabei quer durch die Schweiz: vom Waadtländer Jura, vorbei am Genfersee nach Saint-Maurice und im Wallis hinauf zum Grossen Sankt Bernhard. Auf dem Weg liegt die Abteikirche von Romainmôtier. Sie ist Pilgerort und einer der bedeutendsten Kraftorte der Schweiz.
Ein weiterer Pilgerweg ist der Kolumbansweg: Er führt von Bangor in Irland durch die Schweiz bis Bobbio in Italien. Die Via Columbani ist bedeutend älter als der Jakobsweg und die Via Francigena. Sie ist nach dem Mönch Columban benannt, der diesen Weg Ende des 6. Jahrhunderts mit seinen Gefährten, darunter Mönch Gallus, gewandert ist.
Hugenotten- und Waldenserwege erinnern an das Schicksal von Glaubensflüchtenden im 17. Jahrhundert. Ein europäischer Kulturwanderweg auf ihren Spuren führt von Genf nach Schaffhausen. Täuferwege gibt es im Berner Jura, im Emmental und in Schaffhausen über den Höhenzug Randen. Die Täufer setzten sich im Zeitalter der Reformation für eine weitergehende Reform der Kirche ein.
Pilgern geht auch mit dem Velo
Und wer lieber mit dem Velo pilgert, kommt beim Meinradweg auf seine Kosten. Der Radpilgerweg führt über 275 Kilometer von Rottenburg am Neckar in Deutschland über die Insel Reichenau nach Einsiedeln. Der Pfad erinnert an die Lebensstationen des heiligen Meinrads aus dem 9. Jahrhundert.
An der Stelle seiner Einsiedelei ist später das Kloster Einsiedeln entstanden, heute der bedeutendste Wallfahrtsort der Schweiz.
Wallfahrten als Wohltat
Das viele Gehen hat positive Effekte: Wir konzentrieren uns auf unseren Körper, auf die Beine und den nächsten Schritt. Vieles von dem, was uns belastet, fällt von uns ab. Manche Probleme erledigen sich von allein, wenn wir für kürzere oder längere Zeit Abstand zu unserem Alltag bekommen.
Und beim Gehen lässt es sich gut darüber nachdenken, was im Leben zählt. Viele Menschen erleben Spiritualität draussen in der Natur bei einer Wanderung, bei einem Spaziergang. Oder in der Begegnung mit einem Tier oder mit einem Baum.
Wer profitiert vom Pilgerboom?
Vom neu erwachten spirituellen Interesse profitieren Kirchen und religiöse Gemeinschaften am Wegrand touristischer Hotspots. Menschen besuchen eine Kirche, einen Kraftort. Oder sie gehen durch ein Labyrinth. Sie entzünden eine Kerze, halten inne. Es sind meist flüchtige und kurze Begegnungen.
Pilgern ist weit mehr als ein religiöses Unterfangen. Menschen denken unterwegs über ihr Leben nach, wollen im Leben weiterkommen. Kirchen und religiöse Gemeinschaften, die sich darauf einstellen und gezielt werben, profitieren.