«Ohne Bücher wäre ich gestorben», sagt Verena, Kundin in einem kleinen Buchladen in der Winterthurer Altstadt. Es ist Januar, im Buchhandel ist nach dem Weihnachtsgeschäft Ruhe eingekehrt. Verena besucht ihre Tochter Anna, die hier arbeitet. «Bücher bedeuten mir alles. Nur jetzt, da ich gerade in eine neue Wohnung ziehe, fordern sie mich heraus: Es sind so viele, meine Tochter muss mir beim Packen helfen.»
Rekordzahlen während der Pandemie
Die Zahl lesender Menschen sei in der Schweiz seit Jahrzehnten relativ stabil, sagt Andrea Bertschi-Kaufmann, Basler Leseforscherin und emeritierte Professorin für Literaturdidaktik. Gemäss dem Bundesamt für Statistik gehört das Bücherlesen für viele Menschen zum Leben dazu: 83 Prozent der Bevölkerung haben 2019 mindestens ein Buch pro Jahr gelesen.
Während der Pandemie verzeichnete der Buchhandel gar Rekordzahlen. Und noch immer meldet der Schweizer Buchhandels- und Verlagsverband SBVV Umsatzzahlen über dem präpandemischen Niveau (Medienmitteilung vom Januar 2024).
Dennoch hat sich unser Leseverhalten mit der Digitalisierung des Alltags verändert. Wir überfliegen E-Mails und SMS und scannen Onlineportale nach relevanten Informationen. Gemäss der US-amerikanischen Leseforscherin Maryanne Wolf nimmt dieses Leseverhalten auch Einfluss darauf, wie wir Bücher lesen: ebenfalls schnell und oberflächlich.
Beim «Deep Reading» glüht das Gehirn
Das aufmerksame, vertiefte Lesen von Büchern hingegen unterscheidet sich von diesem Lesevorgang in einem wichtigen Punkt: «Alles, was wir uns beim Lesen vorstellen, erzeugt weit verteilte Hirnaktivierung», so Lutz Jäncke, emeritierter Professor für Neurowissenschaften der Universität Zürich.
«Wenn Sie vertieft sind in ein Buch und lesen, wie ein Gesicht beschrieben wird, sind dieselben Hirnareale aktiv, wie wenn Sie das Gesicht tatsächlich sehen würden. Beim Beschrieb von Landschaften sind Ihre Orientierungszellen aktiv, und so weiter.» Dieses «Deep Reading» könne sogar einen Flow-Zustand auslösen, in dem andere physiologische Prozesse verlangsamt sind – wie bei der Meditation oder im Sport.
Ob man den Text digital oder analog lese, sei dabei nicht relevant: «Auch mit einem e-Reader kann dieser Flow-Zustand neurologisch nachgewiesen werden.» Wichtig sei lediglich, dass man beim Lesen nicht abgelenkt werde, weil das Gerät nicht abgestellt wurde und zum Beispiel ein E-Mail hinein flattere.
Wichtig für gesellschaftlichen Zusammenhalt
Das aufmerksame Bücherlesen gilt als gesund. Es fördert die viel zitierte Hirnplastizität, und Lesende trainierten ausserdem wichtige menschliche Fähigkeiten: «Es ist unterdessen wissenschaftlicher Konsens, dass das Lesen von gut geschriebenen Texten die Empathie fördert», sagt Andrea Bertschi-Kaufmann. «Diese lässt sich im Alltag anwenden: mit Arbeitskolleginnen, im Freundeskreis, in politischen Diskussionen.»
Gut erforscht sei zudem: Kinder, die früh und regelmässig Geschichten erzählt bekommen, lesen auch im Erwachsenenalter regelmässig Bücher. Dies bestätigt der Fall von Verena, der Kundin im Winterthurer Buchgeschäft, und ihrer Tochter Anna. «Als Anna klein war, habe ich oft und mit vielen Stimmen vorgelesen.» Und die Tochter ergänzt: «Das war immer sehr lustig. Wenn ich es mir recht überlege, hatte dies einen riesigen Einfluss auf mein Leben. Ich habe Schauspiel studiert und bin heute mit Leib und Seele Buchhändlerin.»
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