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Buchempfehlung: Im Strudel der Beziehungen – «Der Chor» und «Schwindel»
Aus BuchZeichen vom 01.10.2024. Bild: Lior Neumeister
abspielen. Laufzeit 24 Minuten 50 Sekunden.

Yaghoobifarahs «Schwindel» Von Polyamorie bis Poppers: Im Strudel moderner Liebschaften

«Schwindel», der neue Roman der queeren Popikone Hengameh Yaghoobifarah verhandelt Liebe und Begehren in Zeiten von Polyamorie, Bindungsängsten und Ghosting. Das liest sich wie im Rausch.

Stellen Sie sich vor, es ist Freitagabend und Sie sind auf einem Hochhausdach ausgesperrt. Zusammen mit ihren drei Liebschaften: Die Eine will bloss ihr Handy holen, die Zweite will Sie zur Rede stellen und mit der Dritten haben Sie eigentlich gerade ein Date. Das ist das Ausgangsszenario von «Schwindel». Willkommen in der (queeren) Hölle.

Von «Polysecure» bis Poppers

Das Figurenkabinett von Yaghoobifarah ist skurril. Da wäre Ava, die Hauptfigur, eine junge Frau mit Bindungsängsten und einer leichten Cannabis- und Sexsucht. Ava sieht sich selbst als Opfer. Ihre drei Beziehungspersonen werfen Ava vor, schlecht zu kommunizieren und Verantwortung zu scheuen. Die drei, das sind Delia, eine non-binäre Person mit Anxieties, Robin, eine vermeintlich Heterosexuelle und Silvia, Avas deutlich ältere Geliebte.

Was also tun auf diesem Dach? Zuerst suchen sie nach Hilfe. Als dies aussichtslos scheint, wird das Ganze zu einer Art Gruppentherapie. Sie entwirren ihre Beziehungen, machen Vorwürfe, erklären sich. Zwischen den Dialogen, in denen von der Polyamorie-Bibel «Polysecure» bis zur Partydroge «Poppers» alles aufgegriffen wird, erhalten die Lesenden Inneneinsichten in die Figuren und ihre Vergangenheiten.

Queere Sprache

«Für all die Schwindelnden und die, die sie stützen», lautet die Widmung dieses Romans. Schwindelerregend ist er tatsächlich, auch auf der sprachlichen Ebene. Auf manchen Seiten steht nebst vielen «~» nur ein Wort, auf anderen sind die Sätze in Spiralen angeordnet. Eine Spirale symbolisiert die Sorgen von Delia. Solche Spielereien wirbeln das ansonsten statische Setting auf. 

Die Sprache bricht nicht nur visuell mit Erwartungen, sondern auch Tabus. Sie ist explizit. «Wonach schmeckt das Paradies?», fragt Ava zu Beginn. Und antwortet: nach «Blue Gelato und Pussy». Blue Gelato ist eine Cannabis-Sorte. Während des über das ganze Buch hinweg anhaltenden Wortgefechts wird es vulgär. Die Figuren beschimpfen sich auch mal als «kleine Fotze». Yaghoobifarahs Sprache wird von den Feuilletons oft als wenig zugänglich beschrieben: Zu sehr Jugendsprache, zu viele Anglizismen, zu viel gegendert.

Buchhinweis

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Hengameh Yaghoobifarah: «Schwindel», Blumenbar, 2024.

Geliebt und verhasst

Yaghoobifarah provoziert gerne – und ist sich dessen bewusst. Auf dem Instagram-Profil der Autorenperson steht treffend: «love me or hate me, it‘s still an obsession». Beispielhaft dafür ist die Kontroverse um Yaghoobifarahs taz-Kolumne «Habibitus» im Jahr 2020: Yaghoobifarah verglich darin im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung Polizisten mit Müll, was eine Anzeige der Polizeigewerkschaft nach sich zog. Die Anzeige wurde zurückgewiesen, der Müll-Vergleich als «Geschmacksfrage» eingestuft.

Person mit Tattoos lehnt an einer Backsteinmauer.
Legende: «Steamy»: So bezeichnet Yaghoobifarah die Neuerscheinung «Schwindel» auf Instagram – wird das Buch tatsächlich für qualmende Köpfe sorgen? IMAGO / Funke Foto Services

Yaghoobifarah schreibt Bücher nicht fürs Feuilleton. Das irritiert zuweilen, bricht mit Lesegewohnheiten, scheint manchmal over the top. Aber Realitätstreue ist nicht, was Yaghoobifarah interessiert. Indem queere und post-migrantische Lebensrealitäten im Schreiben der non-binären Person die Norm sind, werden Utopien geschaffen – jenseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft.

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Radio SRF 1, BuchZeichen, 01.10.2024, 20:03 Uhr

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