Rainer J. Schweizer war Staatsrechtsprofessor an der Universität St. Gallen und hat die Verstrickungen des Schweizer Nachrichtendienstes mit dem Apartheid-Regime in Südafrika durchleuchtet. Zudem arbeitete er an vielen neuen Gesetzen mit. Das Wort des 79-jährigen Rechtsexperten hat bis heute Gewicht.
Weder die EU noch die Schweiz haben ein Interesse, das Schengen-Vertragsgebäude abzubrechen.
Schweizer sagt: Nein zu Frontex heisse nicht automatisch Nein zu Schengen. Sein zentrales Argument: als die Schweiz 2005 den Schengen-Vertrag abgeschlossen habe, sei das noch eine überschaubare Sache gewesen, heute sei es ein vielschichtiges System.
«Es ist ein System mit vielen Vorschriften, die die Schweiz teils telquel übernommen und teils sinngemäss übersetzt hat. Zudem wirken wir an einer ganzen Anzahl von europäischen Informationssystemen mit.» Auch beim Frontex-Grenzschutz, der ebenfalls zum Schengen-System gehört. Nicht weniger als 370 Regelwerke habe die Schweiz unterdessen übernommen.
Der Schengen-Vertrag hat eine Art Guillotine-Klausel. Sie besagt: Wenn die Schweiz eine Weiterentwicklung nicht mitmacht, droht nach einem halben Jahr der Ausschluss.
Aber Experte Schweizer ist der Ansicht, diese Klausel sei nicht mehr anwendbar, zu komplex sei dieses Schengen-Vertragsgebäude unterdessen: «Weder die EU noch die Schweiz haben ein Interesse, dieses Gebäude abzubrechen. Dazu haben sie rechtlich auch nicht die Möglichkeit.»
Bräuchte es ein Austrittsverfahren?
Vielmehr bräuchte es nach Schweizers Ansicht ein Austrittsverfahren, vergleichbar mit dem Brexit – mit Verhandlungen und einem Austrittsvertrag.
Zudem gebe es beim Einsatz von Schweizer Grenzschützern im Ausland noch offene Punkte. Es fehle eine entsprechende Grundlage im Zollgesetz, sagt Schweizer: «Dieser entscheidende Schritt im Bereich der Zollverwaltung muss gemacht werden, bevor wir die Zwangsausgaben über Frontex-Ausbau annehmen.»
Während Schweizers Argumente bei den Gegnerinnen und Gegnern der Frontex-Vorlage auf Zustimmung stossen, widerspricht ihm ein grosser Teil der Juristenwelt. Zu ihnen gehört Markus Mohler, ehemaliger Uni-Dozent, Sicherheitsexperte und langjähriger Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt: «Das spielt an sich alles keine Rolle.»
Haben Sie den Eindruck, dass die Schweiz europapolitisch mit Nachsicht rechnen kann, nach all dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist?
Denn Verträge seien zu erfüllen. Das gelte auch in diesem Fall, egal wie sich das Schengen-System weiterentwickelt habe: «Das ist kein Menü à la carte. Man kann nicht sagen: ‹Wir machen nicht mit, denn wir haben schon so viel geändert, das müssen wir alles wieder rückgängig machen.› Das interessiert niemanden.»
Mohler ist auch überzeugt, dass die Schweiz in diesem Punkt nicht auf besonderes Entgegenkommen der EU hoffen, geschweige denn vertrauen kann – und fragt rhetorisch: «Haben Sie den Eindruck, dass die Schweiz europapolitisch mit Nachsicht rechnen kann, nach all dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist?»
Gibt es Verhandlungsspielraum?
Die Ansichten, ob ein Nein zum Frontex-Ausbau am 15. Mai das Ende der Schweizer Schengen-Mitgliedschaft besiegeln würde, gehen also diametral auseinander – wieder, muss man sagen. Eine ganz ähnliche Debatte gab es nämlich schon vor drei Jahren als es um die EU-Waffenrichtlinie ging, auch sie ist ein Teil von Schengen.
Nur waren damals die Vorzeichen andere: Auch die Linke warnte vor dem Schengen-Ausschluss, weil sie für die Waffenrichtlinie war. Heute ist die Linke auf der Gegenseite, bekämpft die Frontex-Vorlage. Und beurteilt den Zusammenhang mit Schengen anders: Es gebe dann schon Verhandlungsspielraum mit der EU, argumentieren die Frontex-Gegner jetzt.