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Interview mit Dealer und Kunde Wachsende Drogenszene in der Romandie setzt Behörden unter Druck

Der zunehmende Drogenhandel auf Westschweizer Strassen beschäftigt die städtischen Gesundheits- und Sicherheitsdispositive. Das Westschweizer Fernsehen RTS hat mit einem Drogendealer und einem Konsumenten gesprochen.

Inu ist vor acht Jahren aus Nigeria geflohen. Vor den bewaffneten Konflikten, die in seinem Land toben. Nachdem er in Italien und später in Frankreich einen Asylantrag gestellt hatte, kam er in die Schweiz. Ohne legalen Status und auf der Strasse lebend, begann er in Genf, mit Drogen zu dealen. «Um zu überleben», wie er sagt.

Der Verkauf von Drogen ermögliche es ihm, «ein bisschen Geld zum Essen zu haben», erklärt er gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS. Er versteht aber auch die Ängste und die Verärgerung, die bei den Anwohnern angesichts der Strassendealer aufkommen.

Die Aufenthaltsgenehmigung als Ausweg

«Wir sagen uns, dass wir langsam machen müssen, uns bedeckt halten müssen. Das schulden wir den Anwohnern, wir dürfen sie nicht stören.» In seinen Augen ist jedoch auch die hohe Polizeipräsenz auf den Strassen dafür verantwortlich, dass es immer wieder zu Krawallen komme. «Manche Polizisten schlagen dich, nehmen dir alles weg, was du hast. Aber nicht alle Polizisten sind schlecht. Einige haben auch Mitleid mit einem.»

Soziologe: «Man muss ganzes System betrachten»

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Loïc Pignolo, Dozent und Forscher an den Universitäten St. Gallen und Genf und Spezialist für Strassendeals, sagt, dass alle zwei bis drei Jahre eine Diskussion über offenen Drogenhandel aufflamme. Seiner Meinung nach sei es jedoch wichtig, dass man versuche, den Blick zu entindividualisieren, also «nicht nur die Personen, sondern das gesamte System um sie herum» betrachte.

Zwar spreche man hier von einem illegalen Markt, aber die damit verbundenen Probleme, in diesem Fall die Gewalt, seien eher begrenzt, stellt er fest. «Zumindest bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass die Verkäufer versuchen, Gewalt so weit wie möglich zu vermeiden, um ihre Kunden zu beruhigen, ihre Präsenz bei den Anwohnern zu legitimieren und die Aufmerksamkeit der Polizei zu vermeiden.» Auch wenn Gewalt nicht immer ausgeschlossen werden könne, vor allem bei härteren Drogen.

Zusätzlich stellt für ihn der Drogenhandel nur einen kleinen Teil der Problematik des Drogenmarktes dar, der von geschlossenen, privaten Märkten bis zu offenen, öffentlichen Märkten reiche. «Der Strassendeal zieht die meiste Aufmerksamkeit auf sich, aber daneben gibt es die eher geschlossenen Märkte, auf denen sich Dealer und Kunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit treffen.»

Der öffentliche Raum als Ort, an dem Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen, sei dennoch für alle Beteiligten (Dealer, Kunden, Händler, Einwohner) problematisch und nehme in Westschweizer Städten immer grössere Ausmasse an, sagt Pignolo. Da der wachsende Drogenhandel jedoch mit wachsenden Schwierigkeiten der sozialen Situation zusammenhänge, müssen sich seiner Meinung nach die Behörden unbedingt damit auseinandersetzen.

Für Inu gehe der Weg aus dem Drogenhandel über eine Aufenthaltsgenehmigung. Er will in der Schweiz einen Asylantrag stellen, um «aus diesem Schlamassel» herauszukommen. Da er keinen legalen Status habe, sei er ein «Gefangener».

Ein System, um die Leute abzuholen

In Lausanne trifft RTS Mike. Mike ist ein Konsument, der sich jedoch weigere, zu stehlen, zu betteln oder sich zu prostituieren. An das Geld für seine Drogen komme er, weil er andere Kunden an Dealer vermittle. Die Dealer geben ihm dafür Geld – oder Drogen. «So schaffe ich es, den ganzen Tag zu konsumieren», erklärt er RTS.

Wie Inu versteht Mike den Ärger der Bevölkerung über die offene Drogenszene. «Ein guter Dealer ist jemand, der es vermeidet, dies unterhalb einer Wohnung oder vor Kindern zu tun.»

Ist die Situation im Kanton Waadt ausser Kontrolle?

Auch in anderen Städten der Westschweiz wie Vevey, Lausanne oder Yverdon sind die Dealer allgegenwärtig und die Drogenabhängigen im öffentlichen Raum immer sichtbarer. Das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung nimmt zu.

Die drei Waadtländer Gemeinden schlugen in einem Brief an den Staatsrat Alarm und wiesen auf eine unhaltbare Situation und ein stillstehendes Repressionssystem hin. Daraufhin setzte die Waadtländer Regierung eine Taskforce gegen den Strassenhandel ein, die unter anderem mehr Präsenz in den Strassen vorsieht.

Die Problematik weitet sich jedoch weiter aus. Politiker fordern nun den Bundesrat auf, Massnahmen zu ergreifen, um den Drogenhandel in den Stadtzentren einzudämmen.

La Matinale, 14.10.2024, 7 Uhr

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