Eine Einschätzung des Eidgenössischen Departements für Äusseres (EDA) könnte ein Schlüsselelement werden in der Debatte rund um die Finanzierung der UNRWA, die zurzeit im Parlament geführt wird. Das Dokument, das das Westschweizer Fernsehen RTS einsehen konnte, wurde im Februar 2024 von der Direktion für Völkerrecht des EDA verfasst – wenige Tage nachdem der Internationale Gerichtshof IGH einer Klage von Südafrika gegen Israel wegen Verletzung der Völkermordkonvention im Gazastreifen stattgegeben hatte.
In diesem Dokument bewerten die Juristinnen und Juristen des EDA die möglichen Folgen dieses Verfahrens für die Schweiz – falls der Bund beschliessen sollte, der UNRWA den Geldhahn zuzudrehen. «Zu den Verbrechen gegen die Völkermordkonvention gehört, eine bestimmte Bevölkerung Existenzbedingungen auszusetzen, die zu ihrer vollständigen oder teilweisen physischen Zerstörung führen sollen.
Ab dem Zeitpunkt, an dem die Schweiz die Finanzierung der UNRWA einstellt, hat sie einen direkten Einfluss auf die Existenzbedingungen, denen die Zivilbevölkerung unterworfen ist. Und von da an kann das in eine Beihilfe zu einem Akt des Völkermords umkippen», erklärt Philippe Currat, Anwalt und Spezialist für internationales Strafrecht, gegenüber RTS.
Schweizer Verpflichtungen
Das EDA-Dokument hält fest: «Dringende Massnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage sind notwendig, um der Gefahr eines Völkermordes vorzubeugen.» Und weiter: «Gemäss Artikel 1 der Völkermordkonvention sind alle Vertragsparteien, einschliesslich der Schweiz, verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Völkermord zu verhindern. In diesem Fall bezieht sich das nicht nur auf die Lieferung von Waffen, sondern vor allem auf die Bereitstellung humanitärer Hilfe.»
Im Dokument wird die Rolle der UNRWA bei der Verteilung der Lebensmittelhilfe im Gazastreifen als zentral bezeichnet. Auch wird gewarnt: «Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidung der Schweiz als potenzielle Verletzung der Vorsorgepflicht und damit als Verletzung der Völkerrechtskonvention betrachtet werden könnte.» Der Leiter der Direktion für Völkerrecht, Franz Perrez, versicherte gegenüber RTS, er habe alle Argumente bereit, um auf eine mögliche Klage zu reagieren.
Nicolas Walder, Vizepräsident der Grünen und Mitglied der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, hatte vom Dokument keine Kenntnis. Im April hatte er eine Interpellation eingereicht, die vom Bundesrat verlangte, die Risiken für die Schweiz im Fall einer Einstellung der UNRWA-Beiträge zu evaluieren. «Dieses Dokument wurde nie vom Bundesrat erwähnt», betont Walder. «Und zu keinem Zeitpunkt wurden diese hier bestätigten Risiken angesprochen.»
Reduzierung des Finanzrahmens
Im September sprach sich der Nationalrat dafür aus, die Beiträge für die UNRWA wegen Zusammenarbeit mit der islamistischen Hamas einzustellen. SVP-Nationalrat Pierre-André Page ist der Ansicht, dass die Einschätzung des EDA nichts an der Debatte ändert: «Wir haben keinen Beweis, dass die UNRWA nicht die Hamas finanziert, und solange wir diesen Beweis nicht haben, finanzieren wir andere humanitäre Organisationen, um weiterhin der Bevölkerung zu helfen, die Opfer dieses Krieges ist.»