In einer Welt ohne Gletscher ist selbst der heute so majestätische Mount Everest nurmehr eine graue Geröllwüste. Die Naturgefahren nehmen zu, nicht nur am höchsten Berg der Erde, sondern in allen Gebirgsregionen weltweit.
Felswände bröckeln, weil das Eis als Stütze fehlt. Irgendwann stürzen sie ins Tal oder in einen der riesigen neuen Gletscherseen, wo sie eine Flutwelle auslösen. Sind Dörfer in der Nähe, wird es Verletzte und vielleicht Tote geben. Und dennoch wäre das unser geringstes Problem.
«Wenn die Gletscher weg sind, haben wir viele andere Kipppunkte im Klimasystem bereits angestossen – der Permafrost wäre geschmolzen, der Meeresspiegel gestiegen, die Ozeane versauern. Dann haben wir uns bereits in eine Situation katapultiert, die wir nicht mehr im Griff haben», sagt Michael Zemp, Direktor des Welt-Gletscher-Beobachtungsdienstes mit Sitz an der Universität Zürich.
Kein Trinkwasser, weniger Strom
Rund zwei Milliarden Menschen leben in Gebieten, die von Gletschern beeinflusst werden. Wären die Gletscher weg, würde sich das Leben der meisten verändern – wie stark hängt davon ab, wo sie leben.
In Zentralasien zum Beispiel, wo im Sommer ohne Regen die Gletscher die einzige Wasserquelle sind, nehmen die Ernteausfälle zu. Wahrscheinlich fliehen viele Menschen vor der noch stärkeren Dürre.
Sind die Gletscher erst geschmolzen, sind wir definitiv auf dem Worst-Case-Kurs.
In der Schweiz fehlt das Wasser unter anderem für die Stromgewinnung. Weltweit trocknen grosse Flüsse periodisch aus. Das macht die Schifffahrt teils unmöglich. Und es kommt noch schlimmer.
«Sind die Gletscher erst geschmolzen, sind wir definitiv auf dem Worst-Case-Kurs», sagt Zemp. Dann schmelzen über die nächsten Jahrtausende auch die Eisschilde in Grönland und in der Antarktis ab. In ihnen steckt das Potenzial eines Meeresspiegelanstieges von über 60 Metern, so der Glaziologe.
Schon drei Meter Anstieg langen und Küstenstädte wie Dubai oder New York stehen unter Wasser – Mumbai würde wohl ganz verschwinden.
Kann das wirklich passieren?
Das Szenario einer Welt ohne Gletscher ist durchaus möglich. Dafür reichen globale Temperaturen, die drei bis vier Grad höher sind als heute und von diesem Kurs sind wir nicht so weit entfernt. Bei einem Temperaturanstieg von fünf bis acht Grad seien über die nächsten 200 bis 300 Jahre definitiv alle Gletscher weg, zitiert Michael Zemp die Klimamodelle.
Sein Kollege Matthias Huss, Gletscherforscher an der ETH Zürich, betont, dass wir schon heute Anpassungsmassnahmen einleiten müssten.
Wir müssen die CO₂-Emissionen weltweit auf null bringen.
Das könnte der grossflächige Bau von Auffangbecken in den Bergen sein. Sie ersetzen die verlorene Speicherwirkung des Gletschereises – für die Gewinnung von Trinkwasser, aber auch für die Stromproduktion. «Denn Niederschläge geben wird es weiterhin – in einigen Regionen sogar mehr», so Huss.
Oder ein massiver Ausbau des Schienennetzes, um die Schifffahrt auf den Flüssen zu ersetzen.
CO₂ muss runter!
Doch bei aller Notwendigkeit für Anpassungen, liegt die einfachste Lösung längst auf der Hand, sagt Matthias Huss: «Wir müssen die CO₂-Emissionen weltweit auf null bringen. Das stoppt den Klimawandel relativ schnell und mit ein wenig Verzögerung stoppt das auch den weiteren Gletscherrückgang».
Ob die Welt einst ohne Gletscher sein wird, liegt also in unserer Hand.