Fast täglich gibt es auf sozialen Medien neue Videos vom russischen Truppenaufmarsch. Endlose Güterzüge mit Panzern im Huckepack, Satellitenfotos von Militärlagern unweit der ukrainischen Grenze.
Eine bedrohliche Szenerie. Die Menschen in der Ukraine jedoch bleiben bisher relativ unaufgeregt, berichtet Andreas Umland aus der Hauptstadt Kiew. Der gebürtige Deutsche ist unter anderem als Analytiker am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des schwedischen Instituts für internationale Angelegenheiten tätig.
Nervosität niedriger als im Westen
Er macht zwei Gründe für die relative Entspanntheit der Bürgerinnen und Bürger aus. Einer ist der Gewöhnungseffekt. «Seit siebeneinhalb Jahren besteht diese Gefahr ständig. Sie wird offenbar nicht mehr so ernst genommen.» Mit anderen Worten: Nach der Annexion der Krim 2014 und dem schwelenden Krieg in der Ostukraine haben sie sich schlicht daran gewöhnt, dass Moskau ein gefährlicher Nachbar ist.
Seit siebeneinhalb Jahren besteht diese Gefahr ständig. Sie wird offenbar nicht mehr so ernst genommen.
Zum anderen gebe es viele ukrainische Analytiker, «die meinen, dass das nur ein Verhandlungsangebot Russlands ist oder nur ein Schritt, um etwas anderes herauszuschlagen als einen militärischen Sieg».
Unrealistische Forderungen Moskaus
Tatsächlich hat der Kreml parallel zu seinem Truppenaufmarsch weitgehende politische Forderungen an den Westen gestellt. So sollen die USA schriftlich garantieren, dass die Ukraine nie der Nato beitrete. Die Russen wollten, so Umland, «dass man in irgend einer Form anerkennt, dass die Ukraine russisches Einflussgebiet ist».
Die Ukraine also, diese ehemalige Sowjetrepublik, soll wieder in den Orbit Moskaus kommen. Dieser geopolitische Blick auf den Konflikt lässt freilich einen Faktor aus: Was die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst wollen. Und da habe sich die Stimmung – angesichts der Erfahrungen mit Russland – in eine eindeutige Richtung entwickelt.
Selenski will Waffen vom Westen
«Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen nicht wieder unter die russische Fuchtel kommen», beobachtet Umland. «Hier ist die Stimmung so, dass man so schnell wie möglich in den Westen will.»
Die Regierung von Wolodimir Selenski versucht, diese Westorientierung umzusetzen. Der ukrainische Präsident drängt auf einen – wenn auch zur Zeit unrealistischen – Nato-Beitritt seines Landes. Und er wünscht sich mehr Waffen vom Westen. Raum für Kompromisse mit Moskau hat Selenski jedoch kaum.
Zehntausende oder gar hunderttausende Menschen haben mehr oder minder viel investiert und verloren in diesem Krieg.
«Das Problem ist, dass es zehntausende oder gar hunderttausende Menschen gibt, die mehr oder minder viel investiert und verloren haben in diesem Krieg», sagt Umland. Und diese Leute würden es nie akzeptieren, wenn die ukrainische Regierung Moskau plötzlich entgegenkäme. Die Zeichen stehen also auf Konfrontation.
Angst vor hohen Immobilienpreisen
Die Ukrainer bleiben gefasst – aber manche machen sich doch Sorgen. «Was ich hier höre, ist, dass der Immobilienmarkt stillsteht, weil man nicht weiss, was künftig gilt für die Immobilien, ob die Preise sinken oder steigen», sagt der Ukraine-Experte.
Bei einem ganz grossen russischen Angriff dürften die Preise in Kiew kollabieren. Greifen die Russen jedoch nur ein begrenztes Gebiet in der Ostukraine an, würden viele Flüchtlinge in die Hauptstadt strömen – und die Preise für Wohnraum steigen. Also kauft und verkauft derzeit niemand in Kiew. Wer weiss, was 2022 bringt.