Deutsche Ärzte haben im Organismus von Alexej Nawalny Nowitoschk gefunden, einen chemischen Kampfstoff, zu dem eigentlich nur staatliche russische Stellen Zugriff haben. Entsprechend besorgt, um nicht zu sagen, empört ist Kanzlerin Angela Merkel. Sie verlangt von Moskau Antworten.
Der russische Aussenminister Sergei Lawrow reagiert darauf wenig diplomatisch: «Inakzeptabel» und «lächerlich» sei das Verhalten Deutschlands, sagte er. Gewisse russische Offizielle verbreiten gar die These, vielleicht hätten ja die Deutschen Nawalny vergiftet, um danach Russland an den Pranger zu stellen.
Bei uns sehen es viele so, dass faktisch eine Art Krieg mit dem Westen herrscht, wenn auch nur ein hybrider Krieg.
Kremlnah, aber kritisch
«Die Beziehungen zu Deutschland verschlechtern sich schon länger. Aber der Fall Nawalny beschleunigt diesen Abwärtstrend», stellt Andrej Kortunov nüchtern fest. Der Politologe ist eine Ausnahmeerscheinung in Moskau. Er ist Chef einer kremlnahen Denkfabrik, aber dennoch ein kritischer Geist, einer, der sagt, was er denkt.
So auch jetzt: «Wenn Russland weiter so eine harte Position einnimmt, wenn es Deutschland der Desinformation beschuldigt und die ganze Angelegenheit als Verschwörung hinstellt, dann ist das für unsere Beziehungen nicht gerade hilfreich.» Er selber, sagt Kortunov, würde dem Kreml zu einer anderen Strategie raten.
«Die Schuldigen müssten gesucht und gefunden werden. Man könnte sogar internationale Ermittler einladen, um zu demonstrieren, dass die russische Staatsmacht vor einer Aufklärung des tragischen Vorfalls keine Angst hat.»
Kortunov hält den Kreml für unschuldig
Ein solches Vorgehen würde sich anbieten, denn Kortunov glaubt nicht, dass die oberste Staatsspitze in den Angrif auf Nawalny involviert war. «Ich gehe nicht davon aus, dass der Kreml etwas damit zu tun hat. Dafür ist dieser Angriff zu brutal.»
Der Kreml also war es nicht, wenn man Kortunov folgt. Wer es aber sonst war, weiss der Experte auch nicht. Und warum reagiert die russische Regierung so gereizt, wenn sie nichts damit zu tun hat?
Kortunov sagt, diese Abwehrhaltung sei schon fast eine Tradition geworden in Moskau. «Das hat mit dem schlechten Klima zwischen Russland und dem Westen zu tun. Bei uns sehen es viele so, dass faktisch eine Art Krieg herrscht mit dem Westen, wenn auch nur ein hybrider Krieg. Und im Krieg sind alle Mittel erlaubt.»
Die aggressive, ja unverschämte Reaktion Moskaus auf die Feststellung, dass Nawalny mit Nowitschok vergiftet wurde, ist die Folge einer langen Entwicklung, von Misstrauen, das sich über Jahre aufgebaut hat.
Integration missglückt
«Auch der Westen hat sich nicht immer ideal verhalten», sagt Kortunov und blickt 20 Jahre zurück. Damals habe sich Russland in Europa integrieren wollen. Russland etwa wollte den deutschen Autohersteller Opel kaufen. Gasprom wollte auf dem europäischen Gasmarkt eine wichtige Rolle spielen.
Die Russen hatten irgendwann das Gefühl: Wir werden ungerecht behandelt.
Mehr noch: Die Russen wollten mehr Reisefreiheit mit Europa und die Visa abschaffen. Kortunov zählt zahlreiche Beispiele auf, die alle gleich enden: «Der Westen stellte ständig irgendwelche neuen Hürden auf. Die Russen hatten irgendwann das Gefühl: Wir werden ungerecht behandelt.»
Dieses russische Gefühl, nach dem Kalten Krieg vom Westen erniedrigt worden zu sein, taucht in Gesprächen immer wieder auf. Das Verbrechen an Nawalny rechtfertigt es nicht, auch nicht die schnoddrige Reaktion auf die deutschen Laborergebnisse. Aber das Gefühl ist da, selbst bei gemässigten Leuten wie Andrei Kortunov.