Am Strand von Flamengo in Rio de Janeiro: Wie eine Aufforderung zum Überleben läuft an der Bar die Hymne der Bee Gees, «Stayin' Alive». Trotz Anstieg der Infektionen sind die Strände von Copacabana und Ipanema seit dieser Woche wieder voll, wie Bilder des brasilianischen Nachrichtensenders Globo News zeigen.
Ich weiss, dass viele Leute sterben, das ist blöd, aber sollen wir uns deshalb daheim einschliessen?
«Die Leute wollen nicht mehr daheim sitzen, sie wollen raus. Schau mal – die Leute sitzen ja voneinander entfernt, jeder bei seiner eigenen Familie. Und so gibt es ja keine Verbreitung des Coronavirus», sagt eine Strandbesucherin. «Man kann die Leute ja nicht daheim einschliessen. Ich weiss, dass viele Leute sterben, das ist blöd, aber sollen wir uns deshalb daheim einschliessen?», sagt ein anderer Strandgänger.
Die Pandemie banalisiert
Ähnliche Bilder in São Paulo. Laut der Polizei hätten die Menschen die Pandemie inzwischen völlig banalisiert. Es gibt illegale Partys in Garagen und Villen, heimliche Bingosäle voller älterer Menschen oder illegale Casinos für Millionäre. Die Polizei versucht, die Massnahmen durchzusetzen, schliesst Lokale und verhängt Bussen. Carlos Marera, Leiter der Polizeibehörde São Paulo, sagt gegenüber Reuters: «Die Partygänger wissen, dass sie das Risiko haben, sich anzustecken. Aber sie achten sich nicht, es ist ihnen egal.»
Ich muss hier sehr deutlich werden: Die Nachlässigkeit der Bevölkerung und der brasilianischen Behörden kostet Leben.
Einzelne Bundesstaaten oder Städte – wie beispielsweise São Paulo – haben die Corona-Massnahmen verschärft. Aber das geschehe nur halbherzig, da es keine einheitlichen Bestimmungen für ganz Brasilien gibt, kritisiert Christos Christou von «Ärzte ohne Grenzen». «Präventionsmassnahmen wie das Tragen von Masken, Abstandhalten und Hygienemassnahmen, werden im Moment in Brasilien nicht umgesetzt. Ich muss hier sehr deutlich werden: Die Nachlässigkeit der Bevölkerung und der brasilianischen Behörden kostet Leben.»
Resignation und Naivität
Brasilien ist in der dunkelsten Stunde der Pandemie. Die Intensivstationen sind überfüllt, Patientinnen und Patienten sterben in den Warteschlangen vor den Kliniken, es fehlt Sauerstoff zur künstlichen Beatmung. Wieso tun trotzdem so viele Menschen so, als ob es keine Pandemie gäbe?
Natalia Pasternak ist Mikrobiologin an der Universität São Paulo und Direktorin einer Denkfabrik für den öffentlichen Gesundheitssektor. «Das brasilianische Volk ist es gewohnt zu resignieren und hat gleichzeitig einen naiven Optimismus. Die Resignation sagt ihnen, dass die Lösung nicht in ihren Händen liegt, und sie nichts machen können. Und der naive Optimismus sagt gleichzeitig, dass alles gut kommen wird. In einer Pandemie ist so eine Vorgehensweise sehr schlecht. Denn sie entlässt die Leute aus der Verantwortung. Es ist kulturell bedingt, dass die Brasilianer sehr fatalistisch sind.»
Präsident Bolsonaro hält trotz der vielen Toten unbeirrbar an seinem Kurs fest. Sein Verhalten wirke sich auf das Verhalten der Menschen aus, sagt Pasternak. «In Brasilien haben wir eine schlechte Kommunikation mit der Bevölkerung. Denn es gibt keine Vermittlung durch die Zentralregierung, die erklärt, warum man Maske tragen und Versammlungen fernbleiben muss. Im Gegenteil – die Message, die rüberkommt ist die, dass es nicht nötig ist, dass es Blödsinn ist.»
Der Senat hat eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, die Bolsonaros Pandemie-Management untersuchen soll. Sie beginnt diese Woche mit ihrer Arbeit.