Mittlerweile ist die Zahl der Toten im Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien auf über 21’000 gestiegen. Noch immer werden Tausende Menschen vermisst. Der deutsche Rettungsmediziner Tankred Stöbe spricht von einer unglaublichen Tragik. Die Hoffnung, noch Überlebende aus den Trümmern bergen zu können, schwindet mit jeder Stunde.
SRF News: Was beschäftigt Sie an der Situation?
Tankred Stöbe: Das ist eine unglaubliche Tragik. Auf türkischer und syrischer Seite sind die Hilfsmassnahmen nicht ausreichend. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir uns das grosse Ausmass, auch Flächenausmass, dieses Erdbebens anschauen. Aber die besondere Sorge gilt Syrien. Nach diesem unglaublichen Desaster sehen wir, dass die Politik in der Türkei und in Syrien die Hilfsmassnahmen nicht gut unterstützt. Menschen können nicht gerettet oder versorgt werden.
Mit welchen Verletzungen sind die Rettungsleute vor allem konfrontiert?
Das sind Verletzungen der Extremitäten, also Knochenbrüche, aber auch Quetschungen. Menschen sind in Gebäuden eingeschlossen, sind verschüttet, ersticken. Wenn sie nicht befreit werden können, können sie an sekundären Ursachen sterben – an Verbluten, Verletzungen oder auch an Hunger, Unterkühlung, Herzrhythmusstörungen, wenn diese Kälte nicht mehr kompensiert werden kann. Nur durch ein Wunder kann man noch Überlebende finden.
Wie lange können Menschen unter Trümmern überleben?
Alles über 72 Stunden sind wirklich Wunder. Wir sind jetzt bei über 80 Stunden. Vor allem verletzte Menschen können eigentlich nicht mehr überleben. Und trotzdem gibt es immer wieder Überlebende. Deshalb dürfen die Bemühungen nicht aufhören.
Die Bemühungen dürfen nicht aufhören.
Wir haben es mit Zehntausenden von Schwerverletzten zu tun. Unser grosses Augenmerk liegt jetzt auf der Versorgung in den Spitälern. Und das geht für Wochen und Monate weiter. Wir müssen uns bald auf die Überlebenden konzentrieren, die versorgt werden müssen, so zynisch es vielleicht klingt.
Wie wichtig ist dabei auch die sogenannte Triage, die Auswahl, wem noch geholfen werden kann? Wie nimmt man diese vor?
Ärzte ohne Grenzen betreibt oder unterstützt über 30 Kliniken und Gesundheitseinrichtungen in Syrien. In den letzten Tagen wurden da über 500 Tote und Abertausende Verletzte hingebracht. Die Ärzte und Pflegenden sind völlig überwältigt von diesem Ansturm von Schwerkranken.
Die Ärzte müssen abwägen, wer von den Verletzten noch eine Chance hat, von medizinischer Behandlung zu profitieren.
Sie müssen abwägen, wer von den Verletzten überhaupt noch eine Chance hat, von medizinischer Behandlung zu profitieren. Nicht, wer wie schwer verletzt ist. Der Fokus liegt in der Regel auf rot Triagierten, also Schwerverletzten, die noch eine Chance haben, zu überleben.
Wie verarbeiten Sie als Retter die Bilder, die Sie in Krisengebieten sehen?
Ich sehe, dass ich als Helfender immer noch privilegiert bin. Ich komme wieder nach Hause. Ich habe keine Sorge, dass ich nichts zu essen bekomme oder kein Dach über dem Kopf habe. Relativ gesehen ist das eigene Leid immer ein sehr viel Geringeres. Und ich habe ja auch schöne Erlebnisse mit den Menschen, die dankbar für erfahrene Hilfe sind. Aber jeder muss für sich sagen, wie robust sein seelisches Kostüm ist.
Das Gespräch führte Nico Bär.