Seit einigen Monaten kommen wieder mehr Menschen aus der Türkei in Griechenland an. Entsprechend voll sind die Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln. Auf Lesbos sorgt das berüchtigte Lager Moria seit Jahren für negative Schlagzeilen. Die norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat mehrmals dort gearbeitet. Jetzt prangert sie die Zustände in Moria öffentlich an.
SRF News: Im Untertitel Ihres Buches schreiben Sie, Europa habe Moral und Menschlichkeit verraten. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Katrin Glatz Brubakk: Die Lage in Moria, wie ich sie selber vor Ort gesehen habe, bedeutet einen eklatanten Bruch der Menschenrechte. Kinder können nicht zur Schule, die Gesundheitspflege ist sehr begrenzt, die Menschen im Camp werden hinter vier Meter hohen Stacheldrahtzäunen eingesperrt. Für diese Menschen scheinen die grundlegenden Rechte der Menschenrechtscharta nicht zu gelten.
Sie haben in den letzten Jahren immer wieder Kinder in Moria betreut. Was sind Ihre Eindrücke?
Eigentlich müsste man eine neue Diagnose für diese Kinder definieren: «Moria». Die Lebensbedingungen für die Kinder sind so schlimm, dass sie krank werden: Sie leben in ständiger Furcht, haben keinen Inhalt während des Tages, leben im ewigen Warten, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen wird.
All die Kinder wären nicht krank, wenn sie nicht in Moria leben müssten.
Die einen Kinder ziehen sich deshalb zurück, spielen nicht mehr, entwickeln sich nicht so, wie es für Kinder normal wäre. Andere sind sehr unruhig, schlagen den Kopf an die Wand oder auf den Boden, beissen sich oder reissen sich Haare aus. Sie alle wären nicht in dieser Weise krank, wenn sie nicht in Moria leben müssten.
Erhalten die Kinder Unterstützung von den griechischen Behörden?
Kaum. Eigentlich sollten sie zur Schule gehen können und gesundheitliche Pflege erhalten. Doch nur einige wenige können eine Schule besuchen – und diese Wenigen müssen in griechische Schulen, in denen Griechisch gesprochen wird. Auch gibt es im Lager Moria selber keine psychologische Unterstützung für die Kinder, die gibt es höchstens in zwei medizinischen Zentren der Ärzte ohne Grenzen ausserhalb des Lagers.
Wie haben Sie selber den Kindern helfen können?
Meine und die Hilfe meiner Kollegen ist bloss ein kleines Pflaster auf einer riesigen Wunde. Wir versuchen vor allem, den Kindern dabei zu helfen, dass sie die Hoffnung für die eigene Zukunft nicht verlieren. Denn das ewige Warten, ohne zu wissen, wie es weitergeht, stürzt viele Kinder in Apathie und Depression. Deshalb ist es wichtig, dass sie trotz allem die Hoffnung nicht verlieren.
Die griechischen Behörden wissen durchaus, wie schlecht es den Kindern in Moria geht.
Wie reagieren die griechischen Behörden auf Ihre Vorwürfe?
Direkten Kontakt habe ich keinen zu den griechischen Behörden in Athen. Doch Ärzte ohne Grenzen und auch ich persönlich haben Verantwortlichen immer wieder vermittelt, wie die Situation ist. Die griechischen Behörden wissen also, wie schlecht es vielen Kindern in Moria geht.
Werden Sie nach Ihrer heftigen Kritik noch Zugang zum Lager Moria erhalten?
Ich werde sehen, ob ich noch hineinkomme. Gott sei Dank gibt es aber noch einige Organisationen, die ausserhalb des Lagers arbeiten. Und irgendwie werde ich einigen der Kinder schon helfen können. Unklar bleibt auch, ob ich bald zu jenen freiwilligen Helferinnen gehören werde, die kriminalisiert werden. Etliche meiner Kollegen wurden schon verdächtigt, sich als Schlepper zu betätigen oder Spione zu sein. Dabei haben sie bloss Menschen geholfen. Ihnen zu Trinken oder eine warme Decke gegeben.
Das Gespräch führte Daniel Hofer.